Josef Engel (1858–)

Persönliche Daten
Namensvarianten
Deckname: Wenzel Mayer
Geburtsdatum
1858
Religionsbekenntnis
römisch-katholisch, dann konfessionslos
Berufe

Ehe: keine
Kinder: keine

Biographie

Josef Engel in Wien

Josef Engel absolvierte eine Tischlerlehre und arbeitete als Tischlergehilfe in Wien, wo er sich früh der radicalen Arbeiterbewegung anschloss. Engel wurde eine zentrale Figur der so genannten Merstallinger-Affäre, die zu einem Wendepunkt in der Geschichte der radicalen Arbeiterbewegung Österreichs wurde. Er war Mitglied zweier geheimer Clubs, von denen 1882 in Wien zweiundvierzig existiert haben sollen. Diese Angabe stammt aus dem Verhör von Josef Engel, der diese Aussage aber im Prozess 1883 widerrief. Josef Engel war Mitglied des Club »Nummer VII«, dem auch noch der Bronzearbeitergehilfe Stefan Buelacher (1858–?), die Tischlergehilfen Heinrich Hotze (1851–1891), Franz Pfleger (1831–1884) und Theodor Wagner (1858–?) sowie der Metallgießer Josef Winter (1840–?) angehört haben sollen. Engel war auch Mitglied eines anderen geheimen Clubs, der sich mindestens seit dem Sommer 1881 in Wien 6., Sandwirtgasse, traf, und dem noch der Schriftsetzer Anton Christoph (1857–1882), der Buchbindergehilfe und jetzige Bürodiener Ernst Schmid (1853–1919) sowie die Tischlergehilfen Andreas Spahl (1852–?) und Johann Wetz (1841–?) angehört haben sollen.

Die Vorbereitung des Attentats

Im Mai 1882 wurde in einem von Heinrich Hotze im Auftrag des radicalen Exekutivkomitees verfassten und in Wiener Werkstätten verbreiteten handschriftlichen Aufrufs (»Werthe Genossen«), unterzeichnet im Namen des »Executiv-Comités«. Darin wurde zur Sammlung für die Anschaffung einer geheimen Druckerpresse aufgefordert. Pfleger sammelte damals 2 Gulden und 50 Kreuzer, die er an Hotze ablieferte. Ebenfalls im Mai 1882 fand eine Sitzung des geheimen Clubs »Nummer II« statt. In dieser sprach sich Heinrich Hotze – nach Aussage von Josef Engel – für die Beschaffung von Geld für Agitationszwecke um jeden Preis aus, selbst mittels Anwendung von Gewalt. Dagegen waren angeblich Ernst Schmid sowie Johann Wetz, dafür Anton Christoph, Josef Engel sowie die Tischlergehilfen Ludwig Sommer (~1851–?) und Andreas Spahl. Diese Sitzung, in der es im Wesentlichen um die Beschaffung von Geld für eine geheime Druckerpresse ging, war gleichsam die Geburtsstunde der so genannten Merstallinger-Affäre. Nach dieser Sitzung begannen die Vorbereitungen für einen geplanten Überfall. Josef Engel erfuhr in einem Gasthaus in Wien 7., Kaiserstraße, von Schuhmachern, dass der bei ihnen missliebige Schuhwarenfabrikant Josef Merstallinger (~1832–?) viel Geld habe. Engel schlug daraufhin einen Überfall auf Merstallinger vor. Der Tischlermeister Wilhelm Bernt (1841–?), der zur Beteiligung am Überfall angeworben wurde, lehnte ab. Dafür bot sich Ernst Schmid an, das Betäubungsmittel zu beschaffen, stellte dieses dann aber nicht her. Nun wurde ein separater geheimer Club gegründet, dem die Tischlergehilfen Franz Domes (~1854–?), Josef Engel, Heinrich Hotze und Franz Pfleger angehörten. Franz Domes beschaffte Geld, damit Franz Pfleger bei Josef Merstallinger etwas kaufen konnte. Josef Engel, der das von Heinrich Hotze beigebrachte Chloroform als unbrauchbar ablehnte, stellte daraufhin mit den – angeblich von einem Studenten gekauften Substanzen – selbst Chloroform her, wobei er dafür das Buch »Die Wunder der Physik und Chemie«1 von Ferdinand Siegmund (1829–1902) benutzte, welches Eigentum des Tischlergehilfen Ludwig Sommer war. Im Juni 1882 erprobte Engel das Chloroform an sich selbst. Nachdem am 24. Juni 1882 die Gelegenheit für einen Überfall auf Merstallinger als ungünstig ausgelassen worden war, forderte Josef Engel seinen Berufskollegen Franz Pfleger am 1. Juli 1882 zur Durchführung des geplanten Unternehmens auf. Am 4. Juli 1882 war es dann so weit. Engel, Pfleger und Domes trafen sich in einem Café vor der Hundsturmer Linie in Gaudenzdorf (Niederösterreich [zu Wien 5., Teil des Margaretengürtels]) und besprachen noch einmal den Plan des Überfalls. Pfleger, der sich für diesen Tag krankgemeldet hatte, erhielt nun Geld zum Rasieren und für den Friseur und ging dann nach Hause, um sich seinen Sonntagsrock anzuziehen.

Der Raubüberfall

Am 4. Juli 1882, um etwa 12 Uhr 15, überfielen Josef Engel und Franz Pfleger den Schuhwarenfabrikanten Josef Merstallinger (~1832–?) in Wien 7., Zieglergasse 8. Eigentlich handelte es sich bei dem überfallenen Geschäftslokal um einen Gassenschuhladen mit angeschlossener Werkstatt. Zunächst fuhr Franz Pfleger in einem Einspänner (Fiaker) vor, betrat den Geschäftsraum und gab sich Josef Merstallinger gegenüber als Fabrikant aus, der eine größere Bestellung machen wolle. Danach betrat Josef Engel, der zu Fuß kam, das Geschäft mit einer Handtasche und einem Paket Schriften unter dem Arm, gab sich als Abgesandter der Polizei aus und erkundigte sich nach einem angeblich bei Merstallinger beschäftigten Arbeiter. Es kam zu einem Wortwechsel zwischen Engel und Merstallinger, in welchen sich dann auch Pfleger einmischte und damit die Aufmerksamkeit des Geschäftsinhabers auf sich lenkte. Engel tränkte den mitgebrachten Schwamm mit Chloroform. Während Pfleger den zu Boden geworfenen Merstallinger fortwährend, etwa zehn Minuten lang, den Schwamm auf das Gesicht presste, erbrach Engel Läden und Schränke im Geschäftslokal wie auch im anschließenden Wohnzimmer, verstaute das Raubgut in einer mitgebrachten Tasche und verließ auf Aufforderung Pflegers als erster den Tatort, dann folgte ihm PflegerGeraubt wurden mindestens 220 Gulden Bargeld (Silber- und Papiergeld) sowie Preziosen im Wert von 782 Gulden. Übrigens gab Josef Merstallinger, selbst zum Missfallen des Gerichts, den Wert des Geraubten ungleich höher an: neben den Preziosen 900 bis 1.000 Gulden Bargeld.

Die Verwahrung der Beute

Schwierig gestalteten sich die Unterbringung und teilweise Verteilung der Beute, die erst im Zuge polizeilicher Hausdurchsuchungen weitgehend sichergestellt werden konnte. Die polizeilichen Erhebungen und gerichtlichen Untersuchungen stellten folgende Vorgänge fest. Josef Engel begab sich noch am 4. Juli 1882 mit der gesamten Beute zur Tintenerzeugerin Anna Heitzer (1850–1913), der er sie zur Aufbewahrung übergeben wollte. Dies verweigerte Heitzer, übernahm dann aber ein Paket mit 100 Gulden zur Verwahrung. Außerdem erhielt sie von Engel einen goldenen Ring mit einem roten Stein im Wert von 28 Gulden und 40 Kreuzer Kupfergeld als Geschenk. Danach begab sich Engel mit dem Rest der Beute zu Franz Pfleger. Hier wurde der Beuterest auf drei Pakete verteilt: ein Paket mit Pretiosen, ein Paket mit 70 Gulden Silbergeld und ein Paket mit 25 Gulden, welche für Franz Domes gedacht waren, als Ersatz für das Geld, das er für die Vorbereitung des Raubüberfalls ausgegeben hatte. Für sich selbst behielt Pfleger lediglich 1 Gulden und 5 Kreuzer als Ersatz für seine beim Raubüberfall zerbrochene Brille. Engel soll insgesamt zwischen 23 oder höchstens 38 Gulden erhalten haben. Danach begab sich Engel am Nachmittag mit den drei Paketen zu Heinrich Hotze, der die Beute für die Partei verwenden sollte. Da Hotze aber nicht zuhause war, übernahm dessen Ehefrau, die Hausfrau Jakobine Hotze (1850–1931), die drei Pakete. Sie erhielt dafür von Engel zwei goldene Manschettenknöpfe im Wert von 6 Gulden und 30 Kreuzer Bargeld als Geschenk. Angeblich soll Heinrich Hotze von diesem Geld 21 oder 22 Gulden für separate Agitationszwecke erhalten haben. Jakobine Hotze versteckte die drei Pakete zunächst im Bett, dann unter einem hölzernen Treppenabsatz. Am 6. Juli 1882 übergab Jakobine Hotze das für diesen vorgesehene Paket mit 25 Gulden Franz Domes. Ebenfalls am 6. Juli 1882 holte sich Engel von den bei Anna Heitzer verwahrten 100 Gulden 8 Gulden für sich. Die restlichen 92 Gulden brachte Anna Heitzer noch am selben Abend in das Redaktionslokal der Zeitung »Die Zukunft« (Wien) in Wien 6., Gumpendorfer Straße 78, welches aber schon zugesperrt war. Daraufhin übergab sie noch am selben Abend die 92 Gulden Jakobine Hotze. Wenig glaubhaft ist Jakobine Hotzes Aussage, sie habe ihrem Ehemann Heinrich Hotze das Geld erst an diesem 6. Juli 1882 übergeben, und dieser soll ihr erst am 8. Juli 1882 gestanden haben, dass es sich bei den Preziosen und Geldern um Beute aus dem Raubüberfall auf Josef Merstallinger handle. Im Auftrag von Heinrich Hotze überbrachte der Miederfabrikant Franz Gams (1850–1899) kurz darauf Wilhelm Bernt in dessen Wohnung in Rudolfsheim Niederösterreich [zu Wien 15.]), Goldschlagstraße 40, das Paket mit 70 Gulden Silbergeld, welche Bernt in Gulden österreichischer Währung wechseln ließ. Von diesen behielt Bernt für sich 4 Gulden, übergab Heinrich Hotze 51 Gulden und Josef Engel für die Flucht 15 Gulden. Außerdem erhielt Bernt von Hotze das Paket mit den Preziosen, welches er für einige Tage in seinem Kellerlokal in Wien 7., Neubaugasse 44, versteckte. Davon erhielt er von Hotze ein Bracelet (Armreif), drei Knöpfe, vier Ringe, eine Damen- und eine Herrenuhr. Die Uhren verkaufte Bernt dem Goldarbeitergehilfen Wenzel Sappé (1856–?) um 50 Gulden, wofür ihm Sappé 30 Gulden anzahlte, welche Bernt für sich verwendete. Von all diesen Vermutungen konnten allerdings später im Prozess nur wenige auch tatsächlich bewiesen werden.

Die polizeilichen Erhebungen

Nicht minder schwierig gestalteten sich zunächst die polizeilichen Erhebungen. Am 6. Juli 1882 wurden in Wien wegen des Raubüberfalls auf Josef Merstallinger drei Männer und zwei Frauen in Verwahrungshaft genommen. Von den Verhafteten wurde am 11. Juli 1882 der vazierende Schuhmachergehilfe Johann Konrad Mucha (1850–?) ins Landesgericht eingeliefert. Mucha, der von Merstallinger mit Josef Engel verwechselt wurde, wurde erst nach sieben Wochen Untersuchungshaft Ende August 1882 als an der Tat vollkommen unschuldig entlassen. Angeblich versuchte Mucha danach, sich aus Verzweiflung zu erhängen. Auch die anderen vier Verdächtigen blieben weiterhin in polizeilichem Gewahrsam.

Nach ersten Vermutungen Ende Juli 1882, dass es sich um ein politisch motiviertes Attentat gehandelt haben könnte, setzte der Präsident der Polizei-Direktion Wien Karl Krticzka Freiherr von Jaden (1824–1885) zur Durchführung der Erhebungen ein eigenes Invigilierungs-Komitee ein. Aufgrund dieser Vermutungen fanden am 25. Juli 1882 mehrere Hausdurchsuchungen bei Radicalen in Wien und in den Vororten statt: beim Tischlermeister Wilhelm Bernt, beim Kunsttischlermeister Wenzel Führer (1853–?), beim Schuhmachergehilfen Karl Masur (1850–191?), beim Tischlergehilfen Franz Pfleger, beim Stahlarbeiter Josef Stiasny (1848–1888), beim Geschäftsdiener Anton Wordak (1846–?) und beim Etuimacher Adolf Zinram (1845–1920). Vom 23. bis 25. August 1882 wurden neuerlich bei Anhängern der radicalen Arbeiterbewegung zahlreiche Hausdurchsuchungen durchgeführt, gefolgt von einer ersten Verhaftungswelle von Radicalen. Verhaftet wurden der Tischlermeister Wilhelm Bernt, der Miederfabrikant Franz Gams, die Tintenerzeugerin Anna Heitzer, die Hausfrau Jakobine Hotze – sie musste das jüngste ihrer Kinder, Hermine Hotze (1881–?), ins Gefängnis mitnehmen, um es stillen zu können –, der Maler- und Anstreichergehilfe und Redakteur Josef Peukert (1855–1910), der Goldarbeitergehilfe Wenzel Sappé, der Buchbindergehilfe und jetzige Bürodiener Ernst Schmid sowie der Tischlergehilfe Ludwig Sommer. Zwei weitere Festgenommene, der Tischler [?] Fritsche und Ludwig Sommers Lebensgefährtin, die hochschwangere Handarbeiterin Marie Wedra (1848–?), wurden aber am 27. August 1882 wieder freigelassen, ebenso Wilhelm Bernt und am 5. November 1882 Wenzel Sappé.

Für die Polizei wichtig war die Festnahme der von ihr mittlerweile als unmittelbare Täter des Raubüberfalls Identifizierten. Franz Pfleger wurde in der Nacht auf den 25. August 1882 in Wien verhaftet. Pfleger hatte angeblich Josef Engel geraten, zu flüchten, denn er sei noch so jung. Engel blieb zunächst noch in Wien und kam am 12. August 1882 auf der Suche nach einem Unterstand in das Lokal des »Allgemeinen Arbeitervereins«. Er gab vor, wegen illegaler Flugschriften verfolgt zu werden, weshalb er dringend Geld brauche. Am nächsten Tag, am 13. August 1882, wollte Ludwig Sommer bei einem Ausflug von Arbeitern nach Hütteldorf (Niederösterreich [zu Wien 14.]) Geld für Engels Flucht sammeln. Er übergab ihm am Abend 10 Gulden, dazu noch 5 Gulden, die er von Wilhelm Bernt erhalten hatte. Engel, der die Nacht auf den 14. August 1882 bei Sommer nächtigte, verließ danach Wien. Josef Engel wurde am Morgen des 26. August 1882 in Budapest (Ungarn) festgenommen, wo er sich unter dem Namen »Wenzel Mayer« in der Josephsgasse 26 [József utca] eingemietet hatte. Er wurde bereits am 27. August 1882 mit dem abendlichen Postzug nach Wien überstellt und ins Polizeigefangenenhaus eingeliefert.

Am 6. September 1882 führten über dreißig Polizisten die nächste große Verhaftungswelle durch, angeblich wegen der jüngsten radicalen Flugschrift »Manifest der sozialrevolutionären Arbeiter-Partei Oesterreichs an das arbeitende Volk«,2 wobei sechsundzwanzig Wiener Radicale – wohl eher im Zusammenhang mit der so genannten Merstallinger-Affäre – verhaftet wurden: der Buchbinder Franz Binder, der Tischlergehilfe Karl Franz, der Kunsttischlermeister Wenzel Führer, der Schneidergehilfe und nunmehrige Kellner Franz Gröbner (1856–?), der Futteralmacher August Koditek (1855–?), der Tischlergehilfe Johann Kompoß (1842–192?), der Tischlergehilfe Josef Kreps (1859–1945), der Webergehilfe und nunmehrige Geschäftsdiener Robert Krondorfer (1853–?), der Schuhmachergehilfe Karl Masur, der Privatlehrer Georg Matzinger (1848–?), der Maschinenschlosser und Maschinist Franz Motz (1850–~1921), der Schuhmachergehilfe Josef Prokurat, der Fabrikarbeiter Ferdinand Schaffhauser (1836–190?) und dessen Ehefrau, die Hausfrau Barbara Schaffhauser (1834–1901?), der Sattlergehilfe Anton Schenk (1842–1927), der Musiker, Inhaber einer Klavierschule und Vorstand des »Wiener Musikerbundes« Josef Scheu (1841–1904), der Tischlergehilfe Friedrich Schott, der Tischlergehilfe Johann Slezák (1851–1907), der Tischlergehilfe Adolf Sloup (1850–?), der Handschuhmachergehilfe Berthold Spiegel (~1854–?), der Stahlarbeiter Josef Stiasny, der Tischlergehilfe Theodor Wagner, der Maler- und Anstreichergehilfe Franz Weich (1855–1925), der vorübergehend freigelassen und dann wieder inhaftiert wurde, der Metallgießer Josef Winter, der Geschäftsdiener Anton Wordak, der Anstreichergeselle Jakob Würges (1842–1895) und dessen unehelicher Sohn, der Buchbindergehilfe Karl Lenk (1865–1926). Ein Teil der Inhaftierten wurde im alten Polizeigefangenenhaus in Wien 1., Sterngasse, untergebracht, ein Teil – noch vor der offiziellen Eröffnung am 12. Oktober 1881 – im neuen in Wien 6., Theobaldgasse 2. Ohne Anklageerhebung wurden am 13. Oktober 1883 Georg Matzinger und Josef Scheu – er ist der Bruder des in London (England) im Exil lebenden Vergolders, Journalisten und Schriftstellers Andreas Scheu (1844–1929) –, Anfang November 1882 Franz Binder, Karl Franz und Josef Prokurat, am 17. beziehungsweise 18. November 1882 Barbara und Ferdinand Schaffhauser, Friedrich Schott, Johann Slezák, Adolf Sloup und Karl Lenk aus der Untersuchungshaft entlassen. Mit den beiden Verhaftungswellen war die Führung der Wiener Radicalen für fast ein halbes Jahr ausgeschaltet. Der ebenfalls verhaftete Schriftsetzer Wilhelm Kummer (~1857–1933) wurde Ende Dezember 1882 direkt aus der Untersuchungshaft heraus und ohne Anklageerhebung wegen werktätiger Teilnahme an der staatsgefährlichen Propaganda der sozialistischen Arbeiterpartei aus sämtlichen im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern (also aus der österreichischen Reichshälfte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie) ausgewiesen und an die ungarische Landesgrenze gebracht. Weitere Verhaftungen folgten. Am 20. November 1882 wurden der Bronzearbeitergehilfe Stefan Buelacher sowie die Tischlergehilfen Andreas Spahl und Johann Wetz, schließlich am 1. Dezember 1882 der Tischlergehilfe Alois Treibenreif (1836–1903). Weil ihm der Boden in Wien zu heiß wurde, flüchtete Heinrich Hotze am 10. August 1882 – im Merstallinger-Prozess behauptete die Anklage, es wäre die Nacht auf den 9. Juli 1882 gewesen – über Antwerpen / Anvers (Belgien) in die USA, und am 19. August 1882 schiffte sich Franz Domes in die USA ein.

Erst nach sieben Wochen, am 23. August 1882, wurde der politische Hintergrund des Raubüberfalls in einem offiziellen Kommuniqué der Polizei öffentlich bekanntgegeben, wobei auch die Namen der bislang Verhafteten veröffentlicht wurden. In den folgenden Wochen wurden Presse und Bevölkerung durch die Verlautbarungen der Polizei-Direktion Wien regelmäßig hinters Licht geführt. So wurde von umfangreichen Geständnissen, welche die Verhafteten abgelegt hätten, berichtet. Tatsächlich gaben einige Verhaftete in der Untersuchungshaft einige der ihnen angelasteten Vorwürfe zu. Franz Pfleger, der am 19. August 1882 wegen Blutkongestionen (Blutandrang) im Kopf ärztlich versorgt und daher nicht verhört werden konnte, legte in der Untersuchungshaft ein vollständiges Geständnis ab, ebenso Josef Engel, welches er aber in der Gerichtsverhandlung teilweise widerrief. Engel musste am 9. Oktober 1882 wegen eines Magenkatarrhs ins Inquisitenspital des Landesgerichts gebracht werden, wo die Ärzte aber nur Folgen eines Alkoholismus feststellten, woraufhin er am 17. Oktober 1882 wieder in die Untersuchungshaft überstellt wurde. Schließlich erhob die Wiener Staatsanwaltschaft am 13. Dezember 1882 offiziell Anklage gegen neunundzwanzig Personen.

Der Prozess

Vom 8. bis 21. März 1883 fand vor dem Landes- als Schwurgericht Wien der Prozess anlässlich der so genannten Merstallinger-Affäre statt, der von der Staatsanwaltschaft als großer Schau- und Hochverratsprozess gegen die Wiener Radicalen angelegt wurde.3 Vor Gericht standen neunundzwanzig Personen. Josef Engel und Franz Pfleger wurden der Verbrechen des Hochverrats und des Raubs als unmittelbare Täter angeklagt, Wilhelm Bernt der Verbrechen des Hochverrats und der Teilnahme am Raub, Ludwig Sommer der Verbrechen des Hochverrats und der Vorschubleistung, Stefan Buelacher, Franz Gröbner, Johann Kompoß, August Koditek, Robert Krondorfer, Karl Masur, Franz Motz, Ernst Schmid, Andreas Spahl, Berthold Spiegel, Josef Stiasny, Alois Treibenreif, Theodor Wagner, Franz Weich, Johann Wetz, Josef Winter und Jakob Würges des Verbrechens des Hochverrats, Josef Peukert der Verbrechen des Hochverrats und der Mitschuld am Raub, Wenzel Führer, Franz Gams, Josef Kreps, Anton Schenk und Anton Wordak des Verbrechens der Mitschuld am Hochverrat, Franz Gams überdies des Verbrechens der Teilnahme am Raub, die schwangere Anna Heitzer und Jakobine Hotze des Verbrechens der Teilnahme am Raub. Nicht angeklagt werden konnten in diesem Prozess die beiden in die USA Geflüchteten: Franz Domes und Heinrich Hotze. Franz Pfleger konnte krankheitsbedingt am neunten Verhandlungstag nicht teilnehmen. Als Vertrauensleute der Angeklagten waren auch wieder einige Reichsratsabgeordnete anwesend: Heinrich Fürnkranz (1828–1896), Ferdinand Kronawetter (1838–1913), Franz Moritz Roser (1818–1906) und Georg von Schönerer (1842–1921). Sämtliche Angeklagten wurden vom Vorwurf des Hochverrats freigesprochen. Lediglich das Raubattentat führte zu Verurteilungen. Josef Engel und Franz Pfleger, welche die Schuld mehr oder weniger auf sich nahmen, wurden wegen Raubs zu je fünfzehn Jahren schwerem Kerker, verschärft durch einen Fasttag monatlich, verurteilt, Wilhelm Bernt, der während der polizeilichen Einvernahmen umfangreiche und teils die Mitangeklagten belastende Aussagen getätigt hatte, wegen Teilnahme am Raub zu zwei Jahren schwerem Kerker, verschärft durch einen Fasttag monatlich. Die sechsundzwanzig anderen Angeklagten wurden gänzlich freigesprochen. Allerdings wurde Josef Stiasny aufggrund der Ausnahmsverordnungen vom 30. Jänner 1884 am 4. Februar 1884 aus Wien ausgewiesen. Josef Engel und Franz Pfleger saßen ihre Strafe seit 1. Mai 1883 im berüchtigten Gefängnis Karthaus (Böhmen [Valdice, Tschechien]) ab, wo Franz Pfleger am 24. April 1884 den Freitod wählte.

Einschätzungen der so genannten Merstallinger-Affäre

Das von der Staatsanwaltschaft gezeichnete gewaltige Bedrohungsszenario von Seiten der Radicalen war wie eine Luftblase zerplatzt. Im Gegenteil, im Gerichtssaal wurden bedenklichste Verhaltensweisen der in die Untersuchung involvierten Behörden öffentlich, etwa Erpressung von Aussagen durch Einschüchterung und Gewaltandrohung. Über den Gerichtssaal hinausgehendes Aufsehen und Interesse erregte der achtundzwanzigjährige Josef Peukert, der schon im Verhör aufgefallen war, durch sein Schlussplädoyer, das er als einziger Angeklagter selbst hielt. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Erinnerungen von Josef Peukert an diesen Prozess hingewiesen, wo er resümierte: »Damit endete das von der Polizei und reaktionären Presse mit so kolossalem Tam-Tam in Szene gesetzte Drama, das der radikalen Arbeiterbewegung den Garaus zu machen bestimmt war.«4 Und Max Nettlau (1865–1944) urteilte Jahrzehnte später: »Die beiden Täter, die mit vollster Uneigennützigkeit gehandelt hatten, erhielten die furchtbare Strafe von je fünfzehn Jahren schweren Kerkers und ein in der Bewegung sehr tätiger Mann, der die übrigen mithineinreißen wollte, um sich zu retten, zwei Jahre. Die geheime Gruppenorganisation wurde aufgedeckt, aber es kamen auch die beständigen Polizeiverfolgungen ans Licht und Peukert und die übrigen Angeklagten gewannen allgemeine Sympathien und wurden alle freigesprochen. Es war eine Situation wie 1894 im Prozeß der 30 (Paris), wo ebenfalls die Militanten der Gesamtbewegung durch Verbindung einer Tendenzanklage mit einer gewöhnlichen Anklage besonders hart betroffen werden sollten und wo dies ebenfalls durch die aufopfernde Solidarität der so genannten gemeinen Verbrecher verhindert wurde.«5 Wie empört die Radicalen waren, zeigt die Notiz, dass »27 unserer Genossen und zwei Frauen, von Justizsoldaten mit aufgepflanzten Bajonetten und scharfgeladenen Gewehren begleitet, als wenn sie eine Völkerschlacht, wo Tausende hingemordet wurden, verschuldet hätten, vor das Schwurgericht in Wien gestellt werden.«6 Und selbst die Wiener Polizei betonte die Bedeutung dieses Prozesses für das Erstarken der radicalen Arbeiterbewegung: »Obwohl die Verhandlungen dieses Processes in den Zusammenhang des verübten Raubes mit den Agitationen der radicalen Partei und überhaupt in die eminent gemeingefährlichen Bestrebungen derselben vollen Einblick boten, benützten die Parteiführer diesen, von weittragenden Folgen begleiteten Processausgang zu einem heftigen Anstürme gegen die Gemässigten, welche sofort nach dem Bekanntwerden des durch Socialisten verübten Raubattentates mit Entrüstung das Treiben der Radicalen verdammt hatten. Allerdings konnten sich diese bloss auf das Verdict der Jury berufen, allein dieser Hinweis genügte um die Massen mit neuer Zuversicht zu erfüllen. Die Führung übernahm wieder der Maler Peukert. Er eliminirte vorerst die bisherigen Functionäre des Parteiorgans ›Zukunft‹, riss die Redaction desselben an sich, veranlasste gleichfalls einen Redactionswechsel bei dem čechischen Parteiblatte und nahm mit womöglich noch grösserer Ueberhebung als zuvor die propagandistische Thätigkeit wieder auf.«7

Nachklänge

Josef Merstallinger betrieb sein Unternehmen danach 1883 bis 1887 in Wien 7., Zollergasse 18, weiter. Franz Pfleger wählte am 24. April 1884 im Gefängnis Karthaus (Böhmen [Valdice, Tschechien]) den Freitod. Nach der Entlassung von Josef Engel aus dem Gefängnis verliert sich dessen Spur.

Karte
  • 1

    Vgl. Ferdinand Siegmund (1829–1902: Die Wunder der Physik und Chemie. Für Leser aller Stände gemeinfaßlich bearbeitet von Ferdinand Siegmund. Mit 100 Illustrationen. Wien – Pest [Budapest] – Leipzig: A. Hartleben’s Verlag 1880, VIII, 960 S.

  • 2

    Vgl. [anonym]: Manifest der sozialrevolutionären Arbeiter-Partei Oesterreichs an das arbeitende Volk. [London]: [Druck der socialdemocratischen Genossenschafts-Buchdruckerei »Freiheit«] [1882], später abgedruckt in der Zeitung »Freiheit« (London), 4. Jg., Nr. 31 (23. September 1882) unter dem Titel »Manifest der socialrevolutionären Arbeiterpartei Oesterreichs an das arbeitende Volk«. Die Weiterverbreitung der Druckschrift wurde mit Erkenntnis des Landes- als Pressgericht Wien vom 9. September 1882 in Österreich verboten.

  • 3

    Vgl. die vom Radicalen Josef Müller (~1839–1891) herausgegebene Schrift: Der Hochverraths-Proceß und die Affaire Merstallinger gegen Engel, Pfleger, Berndt, Sommer, Schmidt, Gröbner, Spiegel, Krondorfer, Winter, Masur, Motz, Kompoß, Würges, Wagner, Weich, Spahl, Wetz, Buelacher, Treibenreif, Peukert, Kotidek, Stiaßny, Führer, Gams, Kreps, Schenk, Wordak, Heitzer und Hotze. Verhandelt vor dem k. k. Schwurgericht Wien, vom 8.–21. März 1883. Nach den stenographischen Berichten bearbeitet und wahrheitsgetreu wiedergegeben. Herausgegeben von Josef Müller. VII. Bezirk, Gumpendorferstraße 78. Wien: Im Selbstverlage des Herausgebers 1883, 238 S.

  • 4

    Josef Peukert (1855–1910): Erinnerungen eines Proletariers aus der revolutionären Arbeiterbewegung. Berlin: Verlag des Sozialistischen Bundes 1913, S. 130.

  • 5

    Max Nettlau (1865–1944): Anarchisten und Sozialrevolutionäre. Die historische Entwicklung des Anarchismus in den Jahren 1880–1886. Berlin: Gilde freiheitlicher Bücherfreunde [1931] (= Beiträge zur Geschichte des Sozialismus, Syndikalismus, Anarchismus. 5. / Gildenbücher. 6.), S. 319–320.

  • 6

    [Anonym]: Aus Parteikreisen. [/] Nur wenige Tage trennen uns noch […], in: Die Zukunft (Wien), [5]. Jg., Nr. 81 (22. Februar 1883), S. [3].

  • 7

    Die socialdemokratische Bewegung in Oesterreich-Ungarn (October 1882 bis Juni 1883). Wien: Aus der kaiserlich-königlichen Hof- und Staatsdruckerei [1883], S. 5.