Josef Peukert: Erinnerungen an den Merstallinger-Prozess in Wien, 8. bis 21. März 1883
Erinnerungen an den Merstallinger-Prozess in Wien, 8. bis 21. März 18831
»Endlich war der so lang ersehnte und gefürchtete achte März da. Aus allen Teilen des Gefängnisses wurden wir allmählich zusammengeführt, und ich hatte zum ersten Mal Gelegenheit, alle meine Mitangeklagten persönlich kennen zu lernen. Die meisten waren schon von der Wucht, mit welcher die Anklageschrift abgefaßt war, und die jeder erhalten hatte, recht niedergedrückt und mutlos. Doch ich war in der besten zuversichtlichen Stimmung, die sich auch bald den andern mitteilte. Von Krebs erhielt ich die Mitteilung, daß neben seiner [126] Zelle ein Mann sei, der mich von London grüßen lasse. Auf die Frage nach dem Namen hieß er »Stevens« Also endlich wußte ich auch, unter welchem Namen und daß er allein verhaftet war; und das war ein großer Stein von meinem Herzen. Nachdem ich Krebs noch empfohlen, für des ersteren Wohlbefinden möglichst zu sorgen, mußten wir an die eigenen Angelegenheiten denken.
Dr. Glaser teilte mir zunächst mit, daß sich die Verteidiger (7) geeinigt hätten, den Dr. Wolf-Epinger mit der Führung zu betrauen, er habe jedoch für mich und sich Selbständigkeit beansprucht, was die Herren verschnupft habe. Nun hatte ich aber schon vorher mit Dr. Glaser bedungen, daß ich mir vorbehalte, meine Verteidigung, bis auf den juristischen Teil, selbst zu führen.
Neben dem Verhandlungssaale befanden sich zwei große Zellen, in welchen wir uns während der Pausen und vor der Eröffnung der Verhandlung täglich ungehindert bewegen konnten. Hier war es auch, wo sich die meisten angeklagten ›Hochverräter und Geheimbündler‹ persönlich kennen lernten. Berndt wurde von allen gemieden, er war auch der einzige, mit dem ich während der Haft niemals in Verbindung getreten war. Viele der Angeklagten waren verheiratet, manche mit starken Familien. Die lange Gefängnisluft, die seelischen Martern, denen sie unterworfen waren, und die Angst über den Ausgang hatten die meisten furchtbar niedergedrückt, so daß es großer Mühe bedurfte sie einigermaßen wieder etwas aufzumuntern. Und unter diesen Umständen ereignete sich ein Vorgang hinter den Kulissen, der von charakteristischer Bedeutung war.
Als nämlich die Verhandlung bis zu den Plaidoyers der Verteidiger gekommen war, einige schon gesprochen hatten, kam eines Morgens vor Eröffnung Dr. Wolf-Epinger in die Zellen, um uns allen eindringlich ans Herz zu legen, keine Rede zu unserer eigenen Verteidigung zu halten. Die Sache stehe soweit günstig, aber doch zweifelhaft. Wenn einer von uns spräche, [127] würde es kommen wie beim Prozeß Walezk (Walezk war wegen einer Sendung ›»Freiheit‹ in Bambusröhren, die geplatzt waren, zu 4 Jahren schweren Kerkers verurteilt worden), es würde alles verdorben und wir würden alle verurteilt werden. Ich protestierte energisch gegen eine solche Beeinflussung. Ich hatte mir bereits schon eine feurige Verteidigungsrede durchdacht und im Geiste vorbereitet, mit welcher ich nicht nur die Anklage widerlegen, sondern die sozialen Zustände und speziell die Rechtlosigkeit des arbeitenden Volkes in Österreich, wie sie durch die Willkür der Behörden entgegen den Bestimmungen über die Untersuchungshaft verübt wurden, anklagen wollte. Der Verteidiger wurde darob sehr ärgerlich und erklärte vor allen Mitangeklagten, daß, wenn ich auf meinem Vorhaben bestehe und spreche, wir auch verurteilt werden würden, und ich habe das Unglück all der Familien, das daraus entstehe auf meinem Gewissen.
Wie leicht zu begreifen, bemächtigte sich vieler nach dieser Erklärung eine heillose Angst, und ich wurde bestürmt den Mund zu halten. In der Mittagspause kam Epinger abermals in Begleitung des Dr. Lueger, des gegenwärtigen Bürgermeisters von Wien, welcher gleichfalls als Verteidiger fungierte. Beide sprachen wieder auf uns ein. Lueger brauchte als Argument: ›Er kenne seine Wiener, aber er habe noch keine so fragliche Geschworenenzusammensetzung gesehen wie diese, soviel er sich Mühe gegeben, in deren Herzen zu lesen, sei er noch vollständig im Zweifel, welchen Standpunkt sie einnehmen werden.‹
Das war für mich eine furchtbar fatale Situation. Sprach ich und wir wurden verurteilt, – einerlei ob meine Rede darauf Einfluß gehabt oder nicht – so würde ich dafür verantwortlich gemacht werden. Die Verteidiger würden schon dafür sorgen, daß es so ausgelegt würde. Sprach ich nicht, würde mein Schweigen in der ganzen. Welt als Feigheit gedeutet werden, denn niemand wußte, was hinter den Kulissen vorgegangen. So erklärte ich [128] denn nach einigem Überlegen, ich werde doch sprechen. Allerdings werde ich in Anbetracht der Umstände nicht die beabsichtigte Rede halten; aber ich wollte nicht der ganzen Welt, die diesen Prozeß verfolgt, das beschämende Schauspiel geben, daß sich 29 Sozialisten wie eine Heerde Schafe stumm zur Schlachtbank führen lassen. Dabei blieb es. Die mutigeren Genossen gaben mir Recht, und bald wollten alle, ich solle nur sprechen, ›nur nicht zu scharf‹.
Das Argument Luegers war nur zu begründet. Während der ganzen zwei Tage währenden Redeflut der Verteidiger blieben die Geschworen völlig teilnahmslos; ja, je länger das dauerte, desto apathischer wurden sie, schliefen ein, blickten sich im Saale um, der dicht gedrängt voll Menschen war, oder flüsterten mit gleichgültigen Mienen untereinander. Bei diesem Anblick wurde mir förmlich selbst bange ums Herz. Die gleichgültigen, nichtssagenden Philisterköpfe hatten das Wohl und Wehe so vieler Menschen, ja der ganzen Bewegung in ihrer Hand. Das letztere allerdings, ohne sich dessen bewußt zu sein.
Daß die Verteidigungsreden so furchtbar öde und abstumpfend wirkten, lag zum größten Teil in der damals üblichen Verteidigungsmethode, welche von fast allen Anwälten gebraucht wurde. Dieselbe bestand in der Regel darin, den oder die Angeklagten als gute, harmlose aber geistig beschränkte Menschen hinzustellen, welche entweder ›verführt‹ waren, oder von der Tragweite ihrer Handlungen keine Ahnung hatten. Auf eine meritorische Erklärung oder Begründung der Handlung aus den jeweiligen Verhältnissen oder Zuständen ließen sie sich nicht ein.
Am 11. und letzten Verhandlungstage wurde die Sitzung erst um halb 11 Uhr eröffnet und der Präsident Graf Lamezan frug, ob noch einer der Angeklagten etwas zu seiner Verteidigung zu sagen wünsche, worauf ich mich meldete. Und merkwürdig, ich hatte kaum ein paar Minuten gesprochen, als ich die Aufmerksamkeit [129] der Geschworenen in solchem Maße gewonnen, daß sie mit vorgestreckten Köpfen, die Hand am Ohr, mit sichtlicher Begierde meinen Ausführungen folgten, bald nickend, bald entrüstet die Schilderungen von den Verfolgungen, welche wir Arbeiter bei unserem Bestreben nach menschenwürdigeren Zuständen zu erdulden hatten, aufnahmen. Sobald ich im Eifer der Rede mich hinreißen ließ, und wohl auch vergessen haben würde, mich in den Schranken der Mäßigung zu halten, klopfte der Präsident leise mit einem Bleistift auf dem Tisch herum, daß ich mich immer wieder erinnerte, was auf ,dem Spiele stand, und mich zur Ruhe zwang, aber ohne einen Augenblick die Geschworenen aus den Augen zu lassen. Als ich mit dem Appell, weder Nachsicht noch Rücksicht zu üben, was ich verlange, sei Gerechtigkeit, geendet, entstand im ganzen Saale, selbst unter den Geschworenen, eine lebhafte Bewegung, gemischt mit Bravorufen, Die Verteidiger und meine Mitangeklagten schüttelten mir freudig die Hände, denn jeder fühlte unwillkürlich, der Kampf war gewonnen. Der Präsident vertagte die Sitzung auf eine halbe Stunde, wohl nur um die Gemüter etwas abkühlen zu lassen.
Nachdem der Präsident in seinem Resumé einige gehässige Bemerkungen über die Pariser Kommune und die russischen Nihilisten gemacht und von den Blauen2 als ›Wassersuppen-Sozialisten‹ gesprochen, zogen sich die Geschworenen zur Beratung zurück, um über 74 vorgelegte Fragen zu entscheiden. Ich selbst war von allen Fragen wegen Hochverrats, Gutheißung von Raub, bis herab zur Geheimbündelei betroffen. In der Zwischenzeit waren wir in froher Stimmung und vertrieben uns in den Wartezellen mit allerhand Ulk und Scherzen die Zeit. Nur Berndt, den alle mit Verachtung für sein schofles verräterisches Benehmen behandelten, empfand wohl schon da die ganze Bitterkeit seiner Judasrolle. Um 5 Uhr 30 kamen die Geschworenen zu ihrem Verdikt, das uns allen bis auf dreien die Freiheit gab. Dafür verhängte der Gerichtshof über Engel und Pfleger die [130] furchtbare Strafe von 15 Jahren schweren Kerkers. Berndt kam mit zwei Jahren davon.
Damit endete das von der Polizei und reaktionären Presse mit so kolossalem Tam-Tam in Szene gesetzte Drama, das der radikalen Arbeiterbewegung den Garaus zu machen bestimmt war.«
Daten
- 1
Josef Peukert (1855–1910): Erinnerungen eines Proletariers aus der revolutionären Arbeiterbewegung. Berlin: Verlag des Sozialistischen Bundes 1913, S. 125–130.
- 2
Die »Roten« waren Anhänger der radicalen Arbeiterbewegung, die »Blauen« der gemäßigten. Die Assoziation der Parteifarbe blau mit der heutigen »Freiheitlichen Partei Österreichs« mag rein zufällig sein. Anmerkung Reinhard Müller.