02. Das radicale Jahrzehnt. 1879 bis 1888

Radicale, Sozialrevolutionäre, Anarchistinnen und Anarchisten

Eine organisierte anarchistische Bewegung setzte in Österreich erst in den 1880er-Jahren ein. Sie war ein Kind jener Arbeiterbewegung, die als erste organisatorische Basis Arbeiterbildungsvereine hatte. Deren Gründung wurde mit der so genannten Dezemberverfassung 1867 gesetzlich ermöglicht. Noch am 15. Dezember 1867 wurde in »Schwender’s Colosseum« (Karl Albert Sachse) in Rudolfsheim (Niederösterreich [zu Wien 15.]), Fünfhauser Hauptstraße, Ecke Kirchengasse [Mariahilfer Straße, Ecke Reindorfgasse], als erster der »Arbeiter-Bildungsverein« in Wien-Gumpendorf gegründet. In den 1870er-Jahren wurde die Arbeiterbewegung in Österreich fast ausschließlich von Sozialdemokraten beherrscht.1 Dabei gilt es aber zu bedenken, dass die Sozialdemokratie zu diesem Zeitpunkt in großen Teilen noch revolutionär war, den sozialen Kampf dem politischen vorzog. Im Mittelpunkt standen noch die Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft und deren Organisierung, nicht der Kampf um das Wahlrecht und die Erringung der politischen Macht. Für die Geschichte der anarchistischen Bewegungen in Österreich war jedoch die Gründung der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs« auf dem allgemeinen österreichischen Arbeitertag (Parteitag) in Lajtaszentmiklós / Neudörfl (Ungarn [Neudörfl, Burgenland]) am 5. und 6. April 1874 durchaus von Bedeutung. Innerhalb dieser Partei organisierten sich seit etwa 1879/1880 die Radicalen, welche die organisatorische Basis einer sich seit 1886/1887 formierenden anarchistischen Bewegung in Österreich bildete.

Einer der Teilnehmer des oben erwähnten Parteitags war der nordböhmische Delegierte Josef Schiller (1846–1897), ein Webereiarbeiter, später als »Seff Schiller« auch ein bekannter Arbeiterdichter. Ende Mai 1874 begab sich Josef Schiller nach Wien, wo ihm die Gießer Arbeit angeboten hatten. Da sich dieser Plan zerschlug, reiste er im Juni 1874 nach Mürzzuschlag (Steiermark), wo er bei einem Genossen, dem Malermeister Franz Wallek, Arbeit fand. Josef Schiller nahm auch am politischen Leben des »Arbeiter-Bildungsvereins« von Mürzzuschlag teil und organisierte im August 1874 sogar ein Arbeiter-Volksfest. Nach nur zwei Monaten verließ er Mürzzuschlag Richtung Aussig an der Ebe (Böhmen [Ústí nad Labem, Tschechien]). Schiller gehörte in den 1880er-Jahren gemeinsam mit den Tuchmachergehilfen Anton Behr (1854–1931) und Franz König (1849–?) zu den wichtigen Aktivisten der radicalen Arbeiterbewegung in Nordböhmen [Tschechien].

Ein weiterer Teilnehmer am oben erwähnten Parteitag war der Vergoldergehilfe Andreas Scheu (1844–1927), der zusammen mit dem Buchbindergesellen Johann Most (1846–1906), damals noch Anhänger der Sozialdemokratie, in Wien 1870 wegen Hochverrats verurteilt worden war. 1874 wanderte Andreas Scheu nach England aus, lebte in der City of Glasgow / Glaschu (Schottland), dann in der City of Edinburgh / Dùn Èideann (Schottland) und seit Jänner 1881 in London (England). Hier verkehrte er mit Johann Most anfangs durchaus freundschaftlich und veröffentlichte – meist unter dem Kürzel »A. S.« – in dessen Zeitung »Freiheit« (London) bis Herbst 1881 einige Artikel. Andreas Scheu, der später in seinen Erinnerungen ein von Antipathie wie marxistischer Ideologie geprägtes Zerrbild von Johann Most zeichnete, schloss sich bald danach den englischen Sozialisten an. Scheu war nie Anhänger der radicalen Arbeiterbewegung, schon gar kein Anarchist. Allerdings arbeitete er bis in die 1890er-Jahre wiederholt mit dem exponierten Anarchisten John Henry Mackay (1864–1933) zusammen.

Die 1874 gegründete »Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs« war zunächst für den gesamten Bereich der Monarchie gedacht. Bald kam es jedoch zu einer nationalen Aufsplitterung innerhalb dieser Gesamtpartei. Am 7. April 1878 wurde in Breunau (Böhmen [Břevnov, zu Praha, Tschechien]) die »Sociálně-demokratická strana českoslovanská v Rakousku« (Tschechoslawische sozial-demokratische Arbeiterpartei in Österreich) mit eigenem Parteiprogramm gegründet, und am 16. und 17. Mai 1880 fand in Budapest (Ungarn) der Gründungskongress der »Magyarországi Általános Munkáspárt« (Ungarische Allgemeine Arbeiterpartei) statt. Diese Zergliederung der österreichischen Arbeiterbewegung prägte später die Sozialdemokratie national und trennte die anarchistischen Bewegungen später sprachlich.

Nicht minder folgenreich war die 1879 einsetzende Spaltung der österreichischen Arbeiterbewegung in zwei Lager: in Gemäßigte und Radicale. »Die ersteren, die Gemäßigten, erstrebten also die Umgestaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung auf friedlichem, gesetzlichem Wege, und zwar einzig und allein auf Grund des einmal erlangten, allgemeinen und directen Wahlrechtes, um die ›politische Macht‹ zu erobern. Daneben erstrebten sie gewisse wirtschaftliche und sociale Reformen. Die Letzteren, die Radicalen, vertraten den Standpunkt, dass die Beseitigung der bürgerlichen Gesellschaft und deren Ordnung nur durch die Gewalt möglich sei und zwar dadurch, dass das Volk unausgesetzt durch Wort und Schrift über die Unhaltbarkeit und Ungerechtigkeit der herrschenden Zustände aufgeklärt, mit den Ideen des Socialismus vertraut gemacht und zu revolutionärem Handeln erzogen wird. Der Parlamentarismus wurde als anti-revolutionär und zur Verbesserung der Lage des arbeitenden Volkes ungeeignet erklärt.«2

Die Radicalen waren ein Produkt der üblen Erfahrungen, welche die Arbeiterinnen und Arbeiter mit den bisher beschrittenen Wegen der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs« machten. Die 1870er-Jahre waren geprägt von Kämpfen um die Führerschaft innerhalb der Partei, von Eitel- und Gehässigkeiten führender Parteifunktionäre gegen und untereinander sowie von der Tatsache, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter dem ihnen versprochenen Ziel keinen Schritt nähergekommen waren: der Eroberung der politischen Macht durch das allgemeine und direkte Wahlrecht. Der wohl entscheidende Impuls für die Neuorientierung eines Teils der österreichischen Arbeiterschaft erfolgte schließlich durch das im Deutschen Reich erlassene Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (»Sozialistengesetz«) vom 21. Oktober 1878, das am 22. Oktober 1878 in Kraft trat. Dieses stellte die »Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands« und deren Reichstagsabgeordnete durch Versammlungs-, Organisations- und Publikationsverbot über Nacht kalt. Angesichts dessen begannen österreichische Arbeiterinnen und Arbeiter 1879, Pläne für eine Neuorganisation der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs« zu entwickeln und den Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft neu zu überdenken.

Über ein halbes Jahrzehnt dominierte der antiparlamentarische, direkt auf die soziale Revolution abzielende Kurs der Radicalen die österreichische Arbeiterbewegung. Dennoch sollte man sich hüten, die Radicalen mit Anarchistinnen und Anarchisten gleichzusetzen. Vielmehr bildete das, was man die radicale Arbeiterbewegung nennt, nur die organisatorische Plattform, auf der sich unzufriedene Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre sowie Anarchistinnen und Anarchisten tummelten. Die Radicalen waren im Wesentlichen enttäuschte Sozialdemokraten, welche nicht mehr an die Eroberung der politischen Macht als geeignetes Mittel zur Erlangung des sozialdemokratischen Zukunftsstaats glaubten. Sie strebten dessen Verwirklichung nunmehr mittels der sozialen Revolution an, deren beschleunigte Herbeiführung sie durch eine intensive Propaganda in Wort und Schrift erhofften. Sie stellten also weder den Staat noch das Prinzip Herrschaft grundsätzlich in Frage. Auch die Sozialrevolutionäre ließen das Dogma vom allgemeinen und direkten Wahlrecht fallen, erachteten aber die herkömmlichen Agitationsmittel als zu langwierig und stellten überhaupt den Sinn von Diskussionen über Wege zur und Gestaltung der zukünftigen Gesellschaft in Frage. Dies findet auch in der deutschen Sprache seinen Niederschlag: Anders als die Sozialisten mit ihrem Sozialismus und die Anarchisten mit ihrem Anarchismus haben die Sozialrevolutionäre keinen Ismus. Sie waren von der unmittelbar bevorstehenden sozialen Revolution überzeugt und wollten diese durch Impuls gebende Aktionen Einzelner oder kleiner Gruppen entzünden, etwa durch terroristische Attentate, welche später als Propaganda der Tat ebenso Aufsehen erregten wie in Verruf gerieten. Schließlich gab es noch die Anarchistinnen und Anarchisten, die mit den beiden vorgenannten Gruppierungen die Idee der sozialen Revolution teilten. Sie zielten auf eine herrschaftsfreie Gesellschaft ab, basierend auf der Freiheit des Einzelnen, auf freiwilligen Verträgen zur Regelung der sozialen Beziehungen sowie auf den Prinzipien des Föderalismus und der gegenseitigen Hilfe. Ihnen ging es nicht um eine möglichst konkrete Vorplanung der künftigen Gesellschaft, sondern um die ethischen Prinzipien und die organisatorischen Grundlagen ihrer angestrebten Gesellschaften. Sie lehnten den von Parteien propagierten politischen Kampf ab und diskutierten verschiedene Formen ökonomischer Organisation. Diese waren damals vor allem Ideen des kollektivistischen und des kommunistischen Anarchismus. Sie bevorzugten also den rein wirtschaftlich orientierten Kampf als die Chance einer sozialen Revolution. Und sie sahen darin einen sinnvollen und auch möglichen Weg zu neuartigen Gesellschaften. Sie setzten auf das persönliche Beispiel, auf die Propaganda in Wort und Schrift sowie auf die Propaganda der Tat, die für sie vor allem soziale Revolten größerer Gruppen darstellten. Terroristische Einzelaktionen konnten sie als Verzweiflungstaten nachvollziehen und verstehen, wurden aber nur in Ausnahmefällen und unter besonderen Umständen bejaht und auch ausgeführt.

Kennzeichnend für die radicale Arbeiterbewegung in Österreich ist, dass sich die oben skizzierten Idealtypen von Radicalen, Sozialrevolutionären sowie Anarchistinnen und Anarchisten stark überschnitten, dass die Grenzen zwischen diesen Gruppierungen also fließend waren. Die Quellenlage ermöglicht es nur selten, einzelne Personen klar als Anarchisten auszumachen. Ein solcher Ausnahmefall ist beispielsweise der Maler- und Anstreichergehilfe Josef Peukert (1855–1910), der nur sechsundzwanzig Monate in Wien weilte, davon zehn Monate in Untersuchungshaft ohne nachfolgende Verurteilung. Er brachte in das anarchistisch völlig unterentwickelte Österreich als erster zumindest ansatzweise Ideen, wie sie unter den zeitgenössischen Anarchistinnen und Anarchisten beispielsweise in England, in der Schweiz, in Italien, Spanien und Frankreich entwickelt worden waren.

Grundsätzlich ist jedoch festzuhalten, dass die frühen 1880er-Jahre die Zeit der Appellation, nicht der Diskussion waren. Die Entwicklung neuer Theorien einer zukünftigen Gesellschaft wurde vielfach durch bloße Aktion ersetzt. Natürlich gab es Ansätze und Bemühungen theoretischer Erörterungen, welche die Historikerin Anna Staudacher (geb. 1946) in einer bemerkenswerten Studie herauszuarbeiten und teils auch zu rekonstruieren suchte.3 Gleichsam als Ergänzung zu Staudachers bahnbrechendem Werk wird hier eine Chronik dieser aktionistischen Jahre geboten.

Die nachfolgende Chronik, die viele bisherige Datierungsfehler korrigiert, bislang wenig Beachtetes darstellt und die wenigstens einigen der ungezählten Opfer durch die Erfassung ihrer Namen ein Zeichen der Erinnerung setzt, hat zwei grundlegende Quellen: Tageszeitungen und Polizeiberichte.4 Diese Angaben wurden anhand diverser Studien und der Memoirenliteratur ergänzt. Da eine genaue Auszeichnung aller Quellenbelege die Dimension dieser Darstellung gesprengt hätte, wurde bewusst darauf verzichtet, doch aufgrund der Datierungen kann sowohl auf die Tageszeitungen wie auch auf die Akten in den Verwaltungsarchiven gezielt zugegriffen werden.

Inhalt

 

Siehe auch:

 

Autor: Reinhard Müller
Version: November 2024
Anarchistische Bibliothek | Archiv | Institut für Anarchismusforschung | Wien
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Daten
bis
1888
von
1879
  • 1

    Sozialdemokratinnen spielten damals noch keine Rolle. Generell muss festgehalten werden, dass Frauen erst in der radicalen Arbeiterbewegung der 1880er-Jahre als Aktivistinnen akzeptiert wurden, zwar nur vereinzelt, aber immerhin.

  • 2

    August Krčal (1860–1894): Zur Geschichte der Arbeiter-Bewegung Österreichs. 1867–1892. Eine kritische Darlegung. Graz: Selbstverlag des Verfassers 1893, S. 14–15.

  • 3

    Vgl. Anna Staudacher (geb. 1946): Sozialrevolutionäre und Anarchisten. Ein Beitrag zur Geschichte der Radikalen Arbeiterpartei Österreichs (1880–1884). Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, eingereicht von Anna Staudacher. Wien 1981, 679 S. (Maschinschrift), bearbeitet und weniger detailreich als Buch unter dem Titel: Sozialrevolutionäre und Anarchisten. Die andere Arbeiterbewegung vor Hainfeld. Die Radikale Arbeiter-Partei Österreichs (1880–1884). Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1988 (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik. 39.), 377 S.

  • 4

    Es handelt sich dabei vor allem um Dokumente aus dem Österreichischen Staatsarchiv, dem Wiener Stadt- und Landesarchiv, dem Oberösterreichischen Landesarchiv, dem Steiermärkischen Landesarchiv, dem Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, und Staatarchiv Hamburg (Fotos von Anarchistinnen und Anarchisten).