02.06.00. Die heftige Stunde der Sozialrevolutionäre. Winter 1883/1884 / Chronik 15. Dezember 1883 bis 29. Jänner 1884

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Überblick

Die Attentate des Buchbindergehilfen Anton Kammerer (1862–1884), der am 15. Dezember 1883 den Polizeikonzipisten Franz Hlubek (1854–1883) erschoss, und des Schuhmachergesellen Hermann Stellmacher (1853–1884), der am 25. Jänner 1884 den Polizei-Detektiv Ferdinand Blöch (1844–1884) tötete, sowie der aller Wahrscheinlichkeit nach von beiden ausgeführte mehrfache Raubmord in der Eisert’schen Wechselstube am 10. Jänner 1884 markieren den Wendepunkt in der Geschichte der radicalen Arbeiterbewegung Österreichs. Und die Abreise des Maler- und Anstreichergehilfen Josef Peukert (1855–1910) am 28. Jänner 1884 aus Wien und am 3. Februar 1884 aus Österreich beendete das kurze Aufflammen anarchistischer Ideen unter Radicalen. Aus anarchistischer Sicht war Hermann Stellmacher die treibende Kraft, ein Mann fanatischen Charakters, mit Opferbereitschaft und krimineller Entschlossenheit, stur und wenig diskussionsbereit, vor allem aber in seinen Handlungen ohne jede Rücksichtnahme auf die Bewegung. Dies bezeugen die Erinnerungen von Josef Peukert,1 die Einschätzung des Anarchosyndikalisten Rudolf Rocker (1873–1858),2 der sich mit diesen Ereignissen eingehend beschäftigt hatte, aber auch bürgerliche Darstellungen wie jene des schweizerischen Juristen und Journalisten Johann Langhard (1855–1928).3 Im krassen Gegensatz dazu standen die sozialrevolutionären Loblieder, welche der Journalist Johann Most (1846–1906) in seiner Zeitung »Freiheit« (New York), beispielsweise am 21. Juni und am 2. August 1884 auf Hermann Stellmacher anstimmte. Ein Wiener Sozialrevolutionär, der mit Anton Kammerer und Hermann Stellmacher eng bekannt war, erinnerte sich fast vierzig Jahre später in seinem französischen Exil an den Winter 1883/1884 in Wien und meinte zur damaligen Verwirrung um den Begriff »Anarchist«: »Es ist heute sehr schwer, sich in den geistigen Zustand vieler Genossen jener Periode hineinzudenken. Wer jene Zeit nicht persönlich miterlebt hat, kann sich nur eine sehr unvollkommene Vorstellung über alle diese Dinge machen. Erscheint mir doch selbst heute vieles fremd und fast unbegreiflich, was mir damals ganz selbstverständlich und unvermeidlich vorgekommen ist. Vor allem muß ich heute unumwunden zugeben, daß wir von durchaus falschen Voraussetzungen ausgegangen sind, und daß wohl die wenigsten von uns imstande waren, die volle Tragweite ihrer Handlungen vollständig zu erfassen. Die ewigen Verfolgungen, denen jeder von uns ausgesetzt war, die unerhörten Opfer, welche die Bewegung fast täglich zu bringen hatte, erzeugten bei vielen von uns einen ganz abnormalen Zustand, der sich schwer beschreiben läßt. Das Sonderbarste aber war, daß uns die Verfolgungen keineswegs unangenehm waren; viele von uns sehnten sie förmlich herbei, da wir fest davon überzeugt waren, daß gerade dadurch die Entscheidung, die unserer damaligen Auffassung nach unmittelbar vor der Tür stand, am besten gefördert würde. Schon das allein beweist, wie wenig wir die Menschen kannten. Wir sahen die Welt sozusagen durch gefärbte Gläser und erblickten überall Zeichen und Wunder, die nur wir richtig zu deuten verstanden. Unser Haß gegen das bestehende System entwickelte sich zu einer Art Privathaß gegen jeden Träger desselben. Bei Männern wie Kammerer und Stellmacher, die ihrem ganzen Temperament nach zu extremen Handlungen veranlagt waren, mußte dieser geistige Zustand ganz furchtbare Konsequenzen auslösen. Trotzdem läßt sich nicht verkennen, daß zwischen beiden ein wesentlicher Unterschied bestand. Kammerer war ein junger Fanatiker von unerhörter Kühnheit, der im Dienste seiner Sache barfuß durch die Hölle gegangen wäre. Dabei war er von Natur aus sehr mild und konnte keiner Fliege etwas zu leide tun. Er war hilfbereit bis zum Extrem, und ich erinnere mich zahlreicher Fälle, wo er für flüchtige Kameraden buchstäblich das Letzte hergab und selbst Not litt. Stellmacher war ganz anders geartet; er war ein verschlossener, harter Charakter, der nur wenigen Einblick in sein Inneres gewährte. Dabei war er sehr rechthaberisch veranlagt und leicht zu Gewalttätigkeiten geneigt. Ich erinnere mich, wie er einst allen Ernstes bereit war, einen bekannten Mitarbeiter des Züricher ‚Sozialdemokrat’ in den See zu werfen, weil derselbe in einem Artikel die Anarchisten in einer allerdings sehr niedrigen und verleumderischen Weise angegriffen hatte. Nur mit großer Mühe konnten wir ihn von diesem Vorhaben abbringen. Von der anderen Seite aber muß zugegeben werden, daß auch Stellmacher sehr opferwillig war und für seine Freunde stets eine offene Hand hatte, obwohl es ihm persönlich oft recht schlecht ging. Es muß auch bemerkt werden, daß die Raubüberfälle in Straßburg, Stuttgart und Wien seiner Initiative entsprungen waren und Kammerer und Kumics sich seinem Einflusse fügten. – Ob Kammerer und Stellmacher wirkliche Anarchisten gewesen sind? Je nun, sie verstanden den Anarchismus, wie die meisten von uns ihn damals auffaßten. Wir waren wohl alle für eine staatlose Gesellschaft, und insofern waren wir Anarchisten, aber unsere Ansichten in diesem Punkte waren äußerst verschwommen, und die tiefe schöpferische Bedeutung der anarchistischen Idee begriff wohl keiner von uns. In den meisten Fällen verwechselten wir den Anarchismus mit dem Terrorismus, und dies war wohl die verhängnisvollste Seite der damaligen Bewegung.«4

 

Chronik

  • 15. Dezember 1883 (Samstag)
    Wien und Vororte: Am 15. Dezember 1883 erreichen die sozialrevolutionären Attentate Wien. Am Abend dieses Tags, seit 20 Uhr, hält der Brotführer Ferdinand Schaffhauser (1836–190?) in einer vom Webergehilfen Johann Till (1863–?) und dem Stuhlarbeiter Alois Siegel einberufenen Versammlung des »Gewerbevereins sämtlicher Stuhlarbeiter und Stuhlarbeiterinnen für Wien« vor etwa vierzig Zuhörern im Gasthaus Franz Aschenbrenner in Großjedlersdorf (Niederösterreich [zu Wien 21.]), Brünner Straße 203, einen Vortrag über »Antikes und modernes Proletariat«, und zwar im Lesezimmer des dort erst seit etwa drei Wochen untergebrachten »Bildungsvereins der Eisen- und Metalldreher«. Unter den Anwesenden befindet sich auch der radicale Bäckergehilfe Franz Poppenwimmer (1863–1918), der später im Prozess auch als Zeuge auftreten muss (►27. und 28. Mai 1884). Nach dem Ende der Veranstaltung unterhält sich der Polizeikonzipist Franz Hlubek (1854–1883) am Tresen noch eine Weile mit Ferdinand Schaffhauser und Johann Till und verlässt um etwa 21 Uhr das Lokal, um zu seinem am anderen Ende der Straße gelegenen Wohnhaus in Floridsdorf (Niederösterreich [zu Wien 21.]), Hauptstraße 46 [Floridsorfer Hauptstraße], zu gehen. Dabei begleitet ihn der Vortragende Ferdinand Schaffhauser bis zum Friedhof an der Ortsgrenze von Großjedlersdorf, trennt sich aber dort von ihm, um kurz nach 21 Uhr im »Beránek’sche Gasthaus« (Roman Beránek und Julie Beránek) in Floridsdorf (Niederösterreich [zu Wien 21.]), Hauptstraße 58 [Floridsdorfer Hauptstraße], noch eine Vorlesung des Arbeiters Ignaz Dörrich zu besuchen. Franz Hlubek wird kurz nach 21 Uhr, kaum dreihundert Schritte von Franz Aschenbrenners Gasthaus entfernt, erschossen: Aus etwa fünf Schritte Entfernung, von rückwärts in den Kopf geschossen, verstirbt er an Gehirnlähmung infolge einer Schusswunde. Durch den Schuss alarmiert, eilen der Tischler Franz Fleischhacker (1861–1914) und der Kesselschmied Robert Hanke (~1853–?) zum vermuteten Tatort, können nur einen regungslos am Boden liegenden Mann erkennen, wobei sie einen Freitod annehmen, und begeben sich unmittelbar danach zur ganz nahe gelegenen Sicherheitswache. Der amtierende Wachmann trägt gemeinsam mit dem Floridsdorfer Totengräber die Leiche in die Totenkammer des dem Tatort gegenüberliegenden Friedhofs, wo er erst seinen Kollegen erkennt. Geld, die Uhr samt silberner Uhrkette und auch das Notizbuch mit den Eintragungen zum Vortrag dieses Abends sind noch vorhanden. Kurz darauf durchstreifen berittene Sicherheitsleute die Gegend, können aber den flüchtigen Täter nicht fassen. Noch in der Nacht des 15. Dezember 1883 wird mit dem Verhör Verdächtiger begonnen, wobei sieben Teilnehmer von Ferdinand Schaffhausers Vortrag vorübergehend festgenommen werden. Schließlich werden Ferdinand Schaffhauser als Hauptverdächtiger und Johann Till verhaftet.
    Der Buchbindergehilfe Anton Kammerer (1862–1884) soll das Attentat auf Franz Hlubek später gestanden haben (►5. September 1884), die einzige der ihm angelasteten Taten, die er nachweislich begangen hat. Interessanterweise gibt der Maler- und Anstreichergehilfe Josef Peukert (1855–1910) eine deutlich abweichende Version der Ereignisse in seinen Erinnerungen wieder. Er habe Anton Kammerer »nicht ganz eine Woche nach dem Schusse in Floridsdorf« getroffen.5 Tatsächlich muss dieses Treffen einen Tag nach dem Attentat, also am 16. Dezember 1883, stattgefunden haben, also an jenem Tag, an welchem Anton Kammerer Wien Richtung Mähren verließ, um erst am 7. Jänner 1884 (Montag) nach Wien zurückzukehren. Josef Peukerts Version der Ereignisse lässt sich an Hand der vorhandenen Quellen nur teilweise belegen, und man muss bedenken, dass er diese Erinnerungen nach seinen heftigen Auseinandersetzungen mit Johann Most (1846–1906) niederschrieb. Auch wenn der von Josef Peukert als Täter verdächtigte Hermann Stellmacher (1853–1884) zum Zeitpunkt der Attentate längst im Widerstreit mit Johann Most stand, blieb er für Josef Peukert doch ein Parteigänger Mosts. Auf die Ermordung von Franz Hlubek werden die Radicalen am ►26. Dezember 1883 mit der Flugschrift »Zur Richtschnur!« reagieren.
    Siehe auch: Josef Peukert: Das Treffen mit dem Sozialrevolutionär Anton Kammerer in Wien am 16. Dezember 1883

  • 16. Dezember 1883 (Sonntag)
    Wien und Vororte: Am 16. Dezember 1883 werden der Brotführer Ferdinand Schaffhauser (1836–190?) und der Webergehilfe Johann Till (1863–?) zusammen mit zwei mittlerweile ebenfalls Verhaftete, dem Lackierer in einer Lokomotivfabrik Johann Ondra (1856–?) und dem Webergehilfen Josef Till (1855–?), unter dem Verdacht des Meuchelmords in das Kreisgericht Korneuburg (Niederösterreich) eingeliefert. (►4. Februar 1884).

  • 16. Dezember 1883 (Sonntag)
    Wien und Vororte: Schon am 16. Dezember 1883 setzt die Polizei-Direktion Wien eine Belohnung von 1.000 Gulden zur Ergreifung des Täters am Mord des Polizeikonzipisten Franz Hlubek (1854–1883) aus.

  • 16. Dezember 1883 (Sonntag)
    Mährisch-Ostrau (Mähren [Ostrava, Tschechien]): Am 16. Dezember 1883 trifft der Buchbindergehilfe Anton Kammerer (1862–1884) aus Wien kommend in Priwoz (Mähren [Přívoz, zu Ostrava, Tschechien]) ein, wo er seinen Bruder Michael Kammerer (1857–?) besucht. Dann begibt er sich weiter nach Mährisch-Ostrau, wo er als »Arnold Otter« am 17. Dezember 1883 (Montag) beim Buchbindermeister Ernst Helbling in dessen Buch- und Steindruckerei in Arbeit tritt und sich bis ►7. Jänner 1884 bei der Hausfrau Anna Ostričil einquartiert; bei seiner fluchtartigen Abreise hinterlässt er ihr eine Schuld von 3 Gulden und 50 Kreuzern.

  • 18. Dezember 1883 (Dienstag)
    Wien und Vororte: Beim Begräbnis des ermordeten Polizeikonzipisten Franz Hlubek (1854–1883) (►15. Dezember 1883) in Floridsdorf (Niederösterreich [zu Wien 21.]) am 18. Dezember 1883 sind nicht nur Vertreter der Polizei und der Statthalterei (Landesregierung) anwesend, sondern auch rund eintausendvierhundert Arbeiter aus der Lokomotivfabrik in Floridsdorf, und ein Sonderzug der Nordbahn bringt rund eintausend Arbeiter aus Wien nach Floridsdorf.

  • 21. Dezember 1883 (Freitag)
    Wien und Vororte: Am 21. Dezember 1883 findet vor dem Landesgericht Wien der Prozess gegen den am 6. Dezember 1883 verhafteten Drechslergehilfen Johann Kutschera (1866–?) statt. Er wird wegen unbefugter Kolportage zu vier Tagen Arrest verurteilt.

  • 22. Dezember 1883 (Samstag)
    Wien und Vororte: Am 22. Dezember 1883 wird die seit Samstag dem 6. April 1878 erschienene, seit 1880 von den Radicalen übernommene Zeitung »Schuhmacher-Fachblatt« (Wien) eingestellt. Die Einstellung erfolgt gemäß den Überlegungen auf der Parteikonferenz der Radicalen in Langenzersdorf (Niederösterreich) und Wien am ►25. Oktober 1883, um dadurch die beiden Hauptorgane der Radicalen, die Zeitungen »Die Zukunft« (Wien) und »Dělnické listy« (Vídeň [Wien]; Arbeiterblätter), zu stärken.

  • 26. Dezember 1883 (Mittwoch)
    Wien und Vororte: Am 26. Dezember 1883 findet im Genossenschaftshaus der Drechsler die Wahl des Gewerbeausschusses statt. Dabei kommt es vor dem Lokal zu Tumulten, weil Radicale diese Wahlen verhindern wollen. Im Zuge des Tumults wird in der Hofmühlgasse, Wien 6., der Drechslergehilfe Franz Krapp verhaftet. Der zufällig anwesende Tischlergehilfe Wenzel Wiciudelik alias Windalik (1859–?) will die Festnahme verhindern und ruft: »Kommt, der muß frei werden, den müssen wir freimachen«.6 Wenzel Wiciudelik wird sich deswegen am ►21. Jänner 1884 vor Gericht verantworten müssen.

  • 26. Dezember 1883 (Mittwoch)
    Wien und Vororte: Mit der unter dem Titel »Neue freie Presse Cisleithaniens«7 erschienenen Nummer vom Dezember 1883 wird die seit ►Mitte März 1883 erschienene Untergrundzeitung »Erste Freie Presse Cisleithanien’s« [Inzersdorf (Wien)] nach drei Nummern eingestellt. In der Nacht vom 26. auf Donnerstag den 27. Dezember 1883 verteilen Radicale das Flugblatt »Neue freie Presse Cisleithaniens. Nr. 3. Zur Richtschnur!«,6 mit welchem sie auf die Aushebung einer geheimen Druckerpresse (►18. November 1883) und auf die Ermordung des Polizeikonzipisten Franz Hlubek (1854–1883) am ►15. Dezember 1883 reagieren.
    Siehe: Neue freie Presse Cisleithaniens. Nr. 3. Zur Richtschnur! [Wien]: [ohne Druckerangabe] [1883]

  • 29. Dezember 1883 (Samstag)
    Wien und Vororte: Am 29. Dezember 1883 spricht der Maler- und Anstreichergehilfe Josef Peukert (1855–1910) bei einer Versammlung des »Fachvereins der Tischler« in Wien über »Die Stellung des Menschen zur Natur«. Als der anwesende Regierungsvertreter den Versammlungsvorsitzenden, den Kunsttischlermeister Wenzel Führer (1853–?), hinweist, dass er bei neuerlichen Ausfällen des Referenten die Versammlung auflösen werde, entgegnet Führer: »Ich bitte den Redner, sich nicht unterbrechen zu lassen.«8 Wenzel Führer wird sich deswegen am ►21. März 1884 vor Gericht verantworten müssen.

  • 29. Dezember 1883 (Samstag)
    Wien und Vororte: Am 29. Dezember 1883 steht der Kunsttischlermeister Wenzel Führer (1853–?), nunmehr Obmann des »Fortbildungs- und Unterstützungsvereins der Tischler«, wieder vor Gericht, diesmal vor dem Bezirksgericht Mariahilf (Wien 6.), angeklagt der Übertretung des Vereinsgesetzes. Er habe eine am 1. Dezember 1883 (Samstag) abgehaltene Versammlung des »Fortbildungs- und Unterstützungsvereins der Tischler« in dessen Vereinslokal in Wien 6., Gumpendorfer Straße 91, nicht angemeldet und sei den Aufforderungen des eintretenden Polizeiorgans nicht nachgekommen. Wenzel Führer, der diese Versammlung als eine der üblichen »Samstag-Zusammenkünfte« des Vereins bezeichnet, wird zu 5 Gulden Geldstrafe, eventuell vierundzwanzig Stunden Arrest, verurteilt.

  • 30. Dezember 1883 (Sonntag)
    Wien und Vororte: Am 30. Dezember 1883 kommt es in der Pfarrkirche St. Johann Evangelist in Wien 10., Keplerplatz 6, zum so genannten Kirchenexzess in Favoriten. Hier hält der Missionsprediger und Ordensprovinzial der Redemptoristen Pater Andreas Hammerle (1837–1930) seit Dienstag dem 25. Dezember 1883 einen Zyklus von Vorträgen. An den Vorabenden sprach er über die christliche Armut, Mäßigkeit und die Vermeidung der Trunksucht. Arbeiter, die bereits bei den Predigten am Freitag dem 28. und Samstag dem 29. Dezember 1883 sehr zahlreich anwesend waren, werfen ihm vor, ihre Frauen aufzuhetzen und so den häuslichen Frieden zu stören. Am Abend des 30. Dezember 1883, es soll der vorletzte Vortrag dieser Reihe sein, predigt Andreas Hammerle seit 19 Uhr zum Thema »Der Adel der Armut oder der Ruhm der Arbeit« vor rund dreitausend Personen, überwiegend Frauen und Kinder. Als der Prediger das Wort »Christ« erwähnt, fragt der Tischlergehilfe Adalbert Stich (1861–?) lautstark: »Wisst ihr, was ein Christ (G’rist ) ist? Zwei Schrägen und ein Balken«.9 Eine Viertelstunde nach Beginn der Predigt fangen die Arbeiter an, sich lautstark zu räuspern, und als vom Haupteingang her einige grelle Pfiffe ertönen, werfen sie wie auf Verabredung hin ihre Hände in die Höhe und rufen: »Hurra!« Einige stürmen zur Kirchentür, andere zur Kanzel, allen voran der Schneidergehilfe Wenzel Kroulík (1856–?), der brüllt: »Nieder mit ihm!« Andere schreien »Wir brauchen keine Jesuiten!«, und der Taglöhner Eduard Ocholsky (1861–?) ruft: »Missionäre – Jesuitenbrut!« Faule Eier und faustgroße Steine werden gegen die Kanzel geworfen, Andreas Hammerle flüchtet in die Sakristei, und inmitten des Tumults schreit jemand »Feuer!«. Gläubige wie Arbeiter stürmen gegen das Haupttor, um ins Freie zu gelangen, wobei sie über einige am Boden liegende Ohnmächtige trampeln. Fünf Personen werden dabei schwer und mehrere leicht verletzt. Die mittlerweile eingetroffene Feuerwehr schlägt mit Äxten die Holztür eines Nebeneinganges ein, um ins Kircheninnere vorzudringen, wobei eine dort aufgestellte Weihnachtskrippe schwer beschädigt wird. Auch die Polizei ist jetzt um die Herstellung von Ruhe und Ordnung bemüht, verhaftet noch in der Kirche Wenzel Kroulík, vor der Kirche Eduard Ocholsky, Adalbert Stich und den nur radebrechend Deutsch sprechenden Blechspanner und »ausgelernten Messner«, wie er später vor Gericht angeben wird, Mihály Holovaty (1853–?), der vor der Kirche die Umstehenden aufgefordert haben soll, die Heiligenbilder von der Kirchenwand zu reißen. Lediglich Mihály Holovaty wird noch am selben Tag auf freien Fuß gesetzt. (►17. Jänner 1884 und ►28. Jänner 1885
    Siehe auch: Josef Peukert: Der so genannte Kirchenexzess in der Pfarrkirche St. Johann Evangelist in Wien 10., Keplerplatz 6, am 30. Dezember 1883

  • 31. Dezember 1883 (Montag)
    Wien und Vororte: Am 31. Dezember 1883 erscheint in der Zeitung »Neue Freie Presse« (Wien) ein Artikel, in welchem der des Raubmordes verdächtigte Tischlergehilfe Michael Kumić (1853–?) (►22. Oktober 1883 und ►21. November 1883) als »Anarchist« tituliert wird.8 Bislang wurden Personen der radicalen Arbeiterbewegung in der bürgerlichen Presse im Allgemeinen als »Sozialdemokraten« beziehungsweise »Sozialisten« bezeichnet. Nunmehr setzt sich die Bezeichnung »Anarchisten« durch.10 

  • 4. Jänner 1884 (Freitag)
    Wien und Vororte: Am 4. Jänner1884 findet vor dem Landes- als Erkenntnisgericht Wien der Prozess gegen den Tischlergehilfen Josef Kreps (1859–1945) statt, angeklagt des Vergehens der Gutheißung und Aufreizung zu ungesetzlichen Handlungen. Da sich der Hauptzeuge der Anklage, ein Polizist, in heftige Widersprüche verwickelt, zieht der Staatsanwalt nach Abschluss des Beweisverfahrens seine Anklage zurück. Zum Hintergrund der Anklage: Am Samstag dem 10. November 1883 hatten sich wie üblich mehrere Angehörige des »Allgemeinen Arbeitervereins« im Vereinslokal, dem Gasthaus »zum Wasen« (Franz Geilschläger) in Wien 6., Dreihufeisengasse 13 [Lehárgasse], getroffen. Da stürzte ein Polizist in das Bibliotheks- und Lesezimmer des Vereins und behauptete: »Hier wird von Revolution gesprochen!« Der Horcher an der Wand hatte sich offensichtlich verhört.

  • 6. Jänner 1884 (Sonntag)
    Wien und Vororte: Am 6. Jänner 1884 findet im Gasthaus »zu den drei Engeln« (Josef Renz) in Wien 4., Große Neugasse 36, eine Arbeiterversammlung statt, in welcher der Einberufer, der Kunsttischlermeister Wenzel Führer (1853–?), vor über dreitausend radicalen Arbeitern über die Arbeiterbewegung der letzten Jahre spricht. Als er auf den Mord in Floridsdorf (Niederösterreich [zu Wien 21.]) (►15. Dezember 1883) zu sprechen kommt, unterbricht ihn der anwesende Behördenvertreter, und es kommt zu einem Tumult. Nach ihm spricht der Tischlergehilfe Alois Treibenreif (1836–1903), der unter anderem feststellt: »Wer wird nicht radical sein in einer Zeit, wo uns die Clerikalen aufs Beten und auf ein socialistisches Himmelreich vertrösten!«11 Um einer Auflösung der Versammlung zuvorzukommen, verlässt er danach das Podium. Unter den Nachfolgerednern befindet sich auch der Maler- und Anstreichergehilfe Josef Peukert (1855–1910), der darauf hinweist, dass sich die Zahl der Abonnenten der Zeitung »Die Zukunft« (Wien) mittlerweile von 3.000 auf 6.000 erhöht habe.

  • 6. Jänner 1884 (Sonntag)
    Fluntern [zu Zürich] (Kanton Zürich, Schweiz): Am 6. Jänner 1884 verlässt der Schuhmachergeselle Hermann Stellmacher (1853–1884) Fluntern, wo er in der Zürichbergstraße 12 gewohnt hatte. Sein Aufenthaltsort bis zum ►13. Jänner 1884 bleibt ungeklärt.

  • 7. Jänner 1884 (Montag)
    Wien und Vororte: Am 7. Jänner 1884 geht in Wien Gerücht um, dass der im großen Hochverratsprozess (►10. bis 12. Februar 1881) verurteilte Mechaniker Leo Walecka (1856–1914) nach verbüßter Haft aus dem Gefängnis Stein [zu Krems an der Donau] (Niederösterreich) um 18 Uhr 55 am Wiener Westbahnhof eintreffen werde. Sechs- bis achthundert Arbeiter versammeln sich in »Neßner’s Bierhalle« und Restauration »zum Stadtgut« (Johann Neßner) in Sechshaus (Niederösterreich [zu Wien 15.]), Sechshauser Hauptstraße 7 [Sechshauser Straße]. Nachdem Leo Walecka nicht erscheint, zerstreuen sich die Arbeiter, singen aber in den Straßen noch revolutionäre Lieder wie »Was kommt dort von der Höh’«. Tatsächlich ist Leo Walecka bereits am Morgen in Wien eingetroffen. Nach diesem missglückten Empfang ist ein Fest zu seinen Ehren für Sonntag den 13. Jänner 1884 geplant, welches dann jedoch wegen des inzwischen erfolgten Raubmords (►10. Jänner 1884) erst am ►27. Jänner 1884 stattfinden wird.

  • 7. Jänner 1884 (Montag)
    Wien und Vororte: Am 7. Jänner 1884 kehrt der Buchbindergehilfe Anton Kammerer (1862–1884) aus Mährisch-Ostrau (Mähren [Ostrava, Tschechien]) nach Wien zurück, wo er sich unter dem Namen »Matthias Haller« bei der Näherin Rosa Bettelheim einmietet und bis ►11. Jänner 1884 wohnen wird.

  • 8. Jänner 1884 (Dienstag)
    Wien und Vororte: Am 8. Jänner 1884 findet vor dem Bezirksgericht Sechshaus (Niederösterreich [zu Wien 15.]) der Prozess gegen den Buchbindergehilfen Ernst Schmidt (1853–?) wegen Wachebeleidigung anlässlich des Gründungsfests des »Fachvereins der Schuhmacher« (7. Oktober 1883) statt. Ernst Schmidt wird freigesprochen.

  • 10. Jänner 1884 (Donnerstag)
    Wien und Vororte: In der ersten Nummer des 5. Jahrgangs der Zeitung »Die Zukunft« (Wien) wird noch versucht, eine Diskussion des Attentats auf den Polizeikonzipisten Franz Hlubek (1854–1883) (15. Dezember 1883) durch Angriffe auf die Presse zu umgehen: »Die Erschießung des Polizei-Konzipisten Hlubek hat den literarischen Düngergruben wiederum einmal Gelegenheit gegeben, ihre Schleusen zu öffnen, und wir sind überzeugt, daß einem großen Teile der Wiener Bevölkerung der Appetit für das Frühstück durch ihre Morgenlektüre gründlich verdorben worden ist. Es gehörten auch außergewöhnlich starke Nerven dazu, um nicht beim Lesen einer gewissen Sorte dieser Sudelblätter vom Brechreiz befallen zu werden. Wir wollen uns mit jenen stinkenden Ergüssen nicht eingehend befassen, ist es doch schon traurig genug, daß solches Gezücht dank unserer Preßzustände und des Reptilienfondes so üppig wuchert.«12 

  • 10. Jänner 1884 (Donnerstag)
    Wien und Vororte: Am 10. Jänner 1884 wird zwischen 17 Uhr 15 und 17 Uhr 30 die Eisert’sche Wechselstube in Wien 6., Mariahilfer Straße 55, von zwei oder drei Männern überfallen. Zwei Männer betreten die Wechselstube, geben vor, russische Rubelscheine wechseln zu wollen, und streuen plötzlich dem dort anwesenden Besitzer Heinrich Eisert sen. (~1838–1884) Sand ins Gesicht. Heinrich Eisert sen. erhält einige Schläge auf den Kopf – laut Gericht vom Buchbindergehilfen Anton Kammerer (1862–1884) –, kann trotzdem, um Hilfe rufend, die Flucht ergreifen, wird jedoch von einem Attentäter am Haustor eingeholt und mit einem Beil oder einer beilähnlichen Waffe niedergeschlagen; Heinrich Eisert sen. wird zwar im Spital sein Bewusstsein wiedererlangen, wird aber am Dienstag dem 22. Jänner 1884 seinen schweren Verletzungen erliegen. Danach kehrt der Täter in das Geschäftslokal zurück, um den Raub durchzuführen. Zweifelhaft ist, ob nun einer der beiden, oder ob ein dritter Täter, der bis dahin vor dem Geschäft Wache gestanden haben soll, in das bloß durch eine Glaswand getrennte Nebenzimmer geht, wo sich zwei Kinder Eiserts aufhalten, welche als Zeugen des Vorfalls ebenfalls mit einem Beil oder einem beilähnlichen Gegenstand niedergeschlagen werden: der neunjährige Rudolf Eisert (~1875–1884) stirbt noch an Ort und Stelle, sein elfjähriger Bruder Heinrich Eisert jun. (~1873–1884) wird am Samstag dem 26. Jänner 1884 den Folgen seiner schweren Verletzungen erliegen. Als Mörder der Kinder benennt das Gericht später den Schuhmachergesellen Hermann Stellmacher (1853–1884). Nur die beim Überfall gerade anwesende Französischlehrerin der Kinder, Karoline Berger (~1819–?), die ebenfalls – laut Polizei von Hermann Stellmacher – niedergeschlagen wird, überlebt schwer verletzt das Attentat. Die beiden anderen Kinder von Heinrich Eisert sen., Bertha Eisert jun. (~1880–?) und Paul Eisert (~1882–1909), sind zum Zeitpunkt des Überfalls gemeinsam mit ihrer Mutter außer Haus in dem von Bertha Eisert sen. (~1851–?) betriebenen Parfümeriewarengeschäft in Wien 6., Mariahilfer Straße 33. Nach diesen Gewalttaten werden die Rollläden heruntergelassen, und der eigentliche Raub wird ausgeführt. Geraubt werden 3.755 Gulden Bargeld und Wertpapiere im Wert von etwa 4.000 Gulden.
    Später werden wegen dieses Raubmords Anton Kammerer (►5. September 1884), der angeblich gestanden hat, und Hermann Stellmacher (►9. Juli 1884), der seine Tatbeteiligung nicht bekennt, verurteilt. Der Maler- und Anstreichergehilfen Josef Peukert (1855–1910), der von einer Täterschaft von Anton Kammerer und Hermann Stellmacher ausgeht, wird später über diese tragische Zeit schreiben: »So war ich einige Tage beruhigt, bis mir ein Genosse Andeutungen machte, die meine erste Befürchtung nur bestätigten. Ich war völlig konsterniert! – die Tat war unter den gegebenen Verhältnissen geradezu wahnsinnig! und der moralische Eindruck mußte, sobald die Täter als Genossen ermittelt wurden, naturgemäß ganz vernichend [!] auf die Bewegung wirken. Wie im Traume sah ich bereits alle Erfolge unserer mühevollen, opferreichen Tätigkeit unter den ehernen Tritten der Reaktion verschwinden. Man konnte es auch bereits aus den Artikeln der Tagespresse herausfühlen: es wurde für einen großen Hauptschlag gegen uns Stimmung gemacht. Meine Stellung war hierbei eine furchtbar peinliche. Eine Tat verteidigen, die ich selbst verdammte, da sie gewissermaßen mit einem Schlage vernichten konnte, was ich mit dem Aufgebote meines ganzen Fühlens und Denkens, mit meiner ganzen Energie und Aufopferung mühsam aufgebaut! Und doch war ich überzeugt, daß auch die Verüber dieser Tat mit dem Einsatze ihres Lebens derselben guten Sache zu dienen vermeinten. Wie ich über diese Situation schließlich noch mit ruhigem Blute hinübergekommen, begreife ich selbst heute noch nicht.«13

  • 11. Jänner 1884 (Freitag) und 12. Jänner 1884 (Samstag)
    Wien und Vororte: In den beiden Tagen nach dem Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube (►10. Jänner 1884) werden als Täter der Gärtner Josef Pongratz (1852–?) (►11. Jänner 1884) und der Bronzearbeitergehilfe Johann Dürschner (1856–1886) (►12. Jänner 1884) verhaftet. Beide werden von Zeugen agnosziert oder als den Tätern zumindest ähnlich sehend bezeichnet, etwa von Heinrich Eisert jun. (~1873–1884), der im Spital vor seinem Tod noch verhört werden kann und dem die beiden Verhafteten vorgeführt werden.

  • 11. Jänner 1884 (Freitag) bis 3. Februar 1884 (Sonntag)
    Budapest (Ungarn) / Zürich / Zurich / Zurigo (Kanton Zürich, Schweiz): Der Buchbindergehilfe Anton Kammerer (1862–1884) kauft am 11. Jänner 1884 bei dem mit seinen Eltern befreundeten Trödler Eduard Kugler (1833–1901) in Wien 2., Große Sperlgasse 25, einen Überzieher und andere Kleidungsstücke um 20 Gulden. Nach Ansicht der Behörden sei Anton Kammerer noch am 11. Jänner 1884 von Wien nach Budapest gefahren, dann Mitte Jänner 1884 nach Zürich gereist, wo er sich bis 3. Februar 1884 aufgehalten habe. (►4. bis 20. Februar 1884) Vor seiner Abreise aus Wien soll Anton Kammerer laut Polizei beziehungsweise Militärauditor den Schuhmachergesellen Hermann Stellmacher (1853–1884) zum Mord am Polizei-Detektiv Ferdinand Blöch (1844–1884) (►25. Jänner 1884) bestimmt haben.

  • 11. Jänner 1884 (Freitag)
    Wien und Vororte: Am Abend des 11. Jänner 1884, um 21 Uhr, wird der als Mittäter am Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube (►10. Jänner 1884) verdächtigte Gärtner und nunmehr arbeitslose Fensterputzer Josef Pongratz (1852–?) in der Wohnung seiner Schwester, der Handarbeiterin Marie Srb, in Wien 6.,Mariahilfer Straße 8, verhaftet und ins Polizeikommissariat Mariahilf (Wien 6.) gebracht. Der wegen Betrugs, Diebstahls und Wachebeleidigung mehrfach Abgestrafte sowie aus sämtlichen im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern (also aus der österreichischen Reichshälfte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie) Ausgewiesene war erst am Samstag dem 5. Jänner 1884 aus dem Wiener Landesgericht entlassen werden, weil das Verfahren wegen öffentlicher Gewalttätigkeit und schwerer körperlicher Beschädigung mangels Beweisen eingestellt werden musste. Er wohnte seither wieder unter dem Namen »Emil Trautz« in Wien 6., Magdalenenstraße 32. Josef Pongratz wird erst Mitte März von der Beteiligung am Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube entlastet, wird aber wegen eines mittlerweile nachgewiesenen Raubes weiter in Haft bleiben (►12. Jänner 1884).

  • 12. Jänner 1884 (Samstag)
    Wien und Vororte: Am Nachmittag des 12. Jänner 1884 wird der als Mittäter am Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube (►10. Jänner 1884) verdächtigte Bronzearbeitergehilfe Johann Dürschner (1856–1886), wohnhaft in Wien 6., Magdalenenstraße 22, verhaftet. Johann Dürschner, der wegen Diebstahls bereits eine fünfzehnmonatige Haftstrafe abgesessen hatte, stand seit einiger Zeit auch als Spitzel im Sold der Polizei. Als er sich im Zuge seiner Konfidententätigkeit am Nachmittag wieder bei der Polizei einfindet, wird er wegen seiner mittlerweile bekannt gewordenen Freundschaft mit dem bereits inhaftierten Gärtner und nunmehr arbeitslosen Gärtner Josef Pongratz (1852–?) (►11. Jänner 1884) zum Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube befragt, verwickelt sich in Widersprüche und wird schließlich inhaftiert. Weitere Verhaftungen erfolgen innerhalb der nächsten Tage, doch werden alle Festgenommenen rasch wieder freigelassen. Lediglich Johann Dürschner und Josef Pongratz bleiben in Haft und werden am Montag dem 21. Jänner 1884 ins Landesgericht Wien eingeliefert werden. Noch vermutet die Polizei keinen politischen, sondern einen rein kriminellen Hintergrund für den Raubmord. Johann Dürschner und Josef Pongratz werden aber am Freitag dem 23. Mai 1884 wegen eines anderen Verbrechens, nämlich dem Raub und Diebstahl am Börsenhändler und nunmehrigen Privatier Samuel Kohn, angeklagt: Johann Dürschner wird freigesprochen, Josef Pongratz wegen Diebstahls und einiger ihm angelasteten Übertretungen zu sechs Jahren schwerem Kerker und anschließendem Landesverweis verurteilt; das Urteil wird am Freitag dem 13. Juni 1884 vom Oberlandesgericht Wien bestätigt werden.

  • 13. Jänner 1884 (Sonntag)
    Wien und Vororte: Am Abend des 13. Jänner 1884 quartiert sich der Schuhmachergeselle Hermann Stellmacher (1853–1884) unter dem Namen des Damenschneidergehilfen Anton Král (~1859–?) in einem Kabinett in Wien 2., Vereinsgasse 1, bei Ignaz Zelinka, ein Handelsagent und Vereinsdiener, und seine Ehefrau Anna Zelinka (1820–1896) ein (►4. Februar 1884). Er teilt seiner Vermieterin am Donnerstag dem 24. Jänner 1884 mit, dass er am nächsten Tag abreisen werde, weil er keine Arbeit finden könne; tatsächlich holt der Dienstmann Adolph Weinwurm (~1831–1902) gegen Mittag am ►25. Jänner 1884 den Koffer von Stellmacher ab.

  • 17. Jänner 1884 (Donnerstag)
    Wien und Vororte: Am 17. Jänner 1884 findet in Wien der Prozess anlässlich des so genannten Kirchenexzesses von Favoriten (►30. Dezember 1883) statt. Angeklagt sind wegen Verbrechens der Religionsstörung der Schneidergehilfe Wenzel Kroulík (1856–?), der Taglöhner Eduard Ocholsky (1861–?) und der Tischlergehilfe Adalbert Stich (1861–?) sowie wegen Vergehens der Aufforderung zu ungesetzlichen Handlungen der Blechspanner Mihály Holovaty (1853–?). Im Sinne der Anklage werden Wenzel Kroulík zu viereinhalb Jahren, Eduard Ocholsky und Adalbert Stich zu je dreieinhalb Jahren schwerem Kerker verurteilt. Mihály Holovaty wird zwar freigesprochen, aber wegen Auflaufs zu 48 Stunden Arrest verurteilt.

  • 19. Jänner 1884 (Samstag)
    Wien und Vororte: Am 19. Jänner 1884 erscheint die letzte Nummer der seit Freitag dem 12. Oktober 1877 in Prag (Böhmen [Praha, Tschechien]) und seit dem ►2. Februar 1881 in Wien erschienenen radicalen Zeitung »Dělnické listy« (Vídeň [Wien]; Arbeiterblätter), wichtigstes Organ der Radicalen in tschechischer Sprache. Sie wird aufgrund des behördlichen Verbots im Rahmen der Ausnahmsverordnungen vom 30. Jänner 1884 nicht mehr erscheinen können. (►1. Februar 1884)

  • 21. Jänner 1884 (Montag)
    Wien und Vororte: Am 21. Jänner 1884 meldet sich der Kunsttischlermeister Wenzel Führer (1853–?) im Landesgericht für Strafsachen Wien zum Antritt einer dreimonatigen Arreststrafe. (►21. September 1883) Er wird dabei von etwa sechzig Arbeitern begleitet, die Wenzel Führers Abschiedsworte mit Hochrufen beantworten. Von der Polizei zum Verlassen des Eingangsbereichs aufgefordert, zerstreuen sich die Arbeiter ohne jeglichen Widerstand.

  • 21. Jänner 1884 (Montag)
    Wien und Vororte: Am 21. Jänner 1884 findet vor dem Landes- als Erkenntnisgericht Wien der Prozess gegen den Tischlergehilfen Wenzel Wiciudelik alias Windalik (1859–?) wegen Vergehens des Auflaufs anlässlich des Drechslergehilfentumults (►26. Dezember 1883) statt. Wenzel Wiciudelik wird zu drei Monaten strengem Arrest, verschärft durch einen Fasttag monatlich, verurteilt.

  • 21. Jänner 1884 (Montag)
    Wien und Vororte: Am 21. Jänner 1884 bestellt der Schuhmachergeselle Hermann Stellmacher (1853–1884) beim Schuhwarenhändler Leopold Frank in Wien 1., Seilergasse 2, ein Paar Tuchstiefletten um 9 Gulden, wobei er die Anzahlung mit einer Staatsnote zu 50 Gulden verwendet. Sechzehn Stück dieser Staatsnote waren beim Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube (►10. Jänner 1884) geraubt worden.

  • 21. Jänner 1884 (Montag) und 22. Jänner 1884 (Dienstag)
    Wien und Vororte: Am 21. Jänner 1884 kommt es in Wien wieder zu einem so genannten Bäckerrummel. (►4. Mai 1883) Am Nachmittag soll im Magistrat die Wahl des Genossenschaftsausschusses der Bäcker stattfinden. Weil nicht alle Gehilfen Einladungen erhielten, muss die Wahl vertagt werden. Daraufhin ziehen mehrere hundert Bäckergehilfen singend durch die Renngasse und Strauchgasse in Wien 1. Gegen 21 Uhr marschieren neuerlich Bäckergehilfen, diesmal etwa vierhundert, durch die Lerchenfelder Straße zur Josefstädter Straße in Wien 8., wo sie vor dem Haus Nummer 81, dem Wohnsitz des Vorstandstellvertreters der Genossenschaft der Bäcker, dem Bäckermeister Johann Müller, Aufstellung nehmen. Rufe wie »Haut’s ihm die Fenster ein!« werden laut. Die Wachebeamten können die Versammlung zwar friedlich auflösen, doch sammelt sich neuerlich ein Trupp und zieht zum Bäckermeister Franz Skalnik in Ottakring (Niederösterreich [zu Wien 16.], Ottakringer Hauptstraße 31 [Ottakringer Straße], wo dann auch eine Scheibe zu Bruch geht. Vier Bäckergehilfen, die der Aufforderung, sich zu zerstreuen, nicht nachkommen, werden verhaftet: Josef Kittler (1853–?), in dessen Besitz man später einen scharf geschliffenen Dolch finden wird, Jakob Kleber, Johann Schak und Karl Siedl (►5. Februar 1884). Im Zusammenhang mit dem so genannten Bäckerrummel werden an diesem Tag auch drei Bäckergehilfen aus Währing (Niederösterreich [zu Wien 18.]) inhaftiert: Engelbert Loth, Ludwig Schwämmel und Karl Wachter. Sie haben am Samstag dem 19. Jänner 1884 im Innungshaus der Bäckergenossenschaft in Wien 1. am Salzgries den Bäckergehilfen Anton Kopetzky schwer misshandelt, weil er nicht am Aufmarsch zur Wohnung des Genossenschaftsvorstandes, Bäckermeister Tobias Ratz in Wien 4., Favoritenstraße 38, teilnehmen wollte; dabei soll Anton Kopetzky auch eine silberne Uhr samt goldener Kette im Wert von 118 Gulden gestohlen worden sein. Am 22. Jänner 1884 gibt es einen Versuch, den so genannten Bäckerrummel fortzusetzen. Nahe der Spinnerin am Kreuz, ein altes Wahrzeichen bei der Triester Straße 52 (Wien 10.), versammeln sich gegen 17 Uhr etwa sechzig bis achtzig Bäckergehilfen. Da kein weiterer Zuzug von Berufskollegen erfolgt, ziehen sie sich nach einer halben Stunde in kleinen Gruppen nach Inzersdorf (Niederrösterreich [zu Wien 10.]) zurück, wo sie sich in die dortigen Gasthäuser begeben.

  • 23. Jänner 1884 (Mittwoch)
    Wien und Vororte: Am 23. Jänner 1884 findet vor dem Landes- als Schwurgericht Wien, zeitweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit, der Prozess gegen den am ►18. November 1883 im Zusammenhang mit der Aushebung einer illegalen Druckerei verhafteten Schlossergehilfen Johann Rouget (1847–1893) statt, angeklagt der Verbrechen des Hochverrats, begangen durch Mitwirkung an der Erzeugung von revolutionären Schriften, der Majestätsbeleidigung, der Beleidigung der Mitglieder des kaiserlichen Hofs, der Ruhestörung und der versuchten Verleitung zum Mord. Johann Rouget wird von den Geschworenen mit zehn Neinstimmen von der Hauptanklage freigesprochen, mit ebenso vielen Stimmen jedoch der Vorschubleistung für schuldig befunden und zu acht Monaten schwerem Kerker verurteilt. Johann Rouget wird nach Verbüßung seiner Haftstrafe aus Wien für beständig abgeschafft werden.

  • 23. Jänner 1884 (Mittwoch)
    St. Pölten (Niederrösterreich): Am 23. Jänner 1884 findet vor dem Landes- als Erkenntnisgericht St. Pölten der Prozess gegen den im ►Dezember 1883 in Hainfeld (Niederösterreich) verhafteten Schuhmachergehilfen Eduard König, Schriftführer des »Arbeiter-Bildungsvereins in Hainfeld«, wegen Vergehens der Aufreizung durch Gutheißung ungesetzlicher Handlungen statt, begangen durch die Verbreitung verbotener Flugschriften. Der körperlich behinderte Eduard König (»Krüppelhaftigkeit«) wird vom Vergehen freigesprochen, jedoch wegen Verbreitung verbotener Druckschriften zu einer Geldstrafe von 5 Gulden verurteilt.

  • 23. Jänner 1884 (Mittwoch)
    Brünn (Mähren [Brno, Tschechien]): Mit der Nummer vom 23. Jänner 1884 stellt die seit ►12. Dezember 1883 erscheinende radicale tschechische Zeitung »Práce« (Brno; Die Arbeit) nach vier Nummern ihr Erscheinen ein. Nachfolgerin wird am 27. März 1884 die Zeitung »Duch času« (Prostějov; Der Zeitgeist) werden.

  • 24. Jänner 1884 (Donnerstag)
    Wien und Vororte: Am 24. Jänner 1884 erscheint die letzte Nummer der seit dem 10. Oktober 1879 erschienenen Zeitung »Die Zukunft« (Wien), wichtigstes Organ der Radicalen in deutscher Sprache. Sie wird aufgrund des behördlichen Verbots im Rahmen der Ausnahmsverordnungen vom 30. Jänner 1884 nicht mehr erscheinen können. (►1. Februar 1884)

  • 25. Jänner 1884 (Freitag)
    Wien und Vororte: Am 25. Jänner 1884 begibt sich um 7 Uhr 45 morgens der Polizei-Detektiv Ferdinand Blöch (1844–1884) von seiner Wohnung in Floridsdorf (Niederösterreich [zu Wien 21.]), Mühlschüttel 140, zum Floridsdorfer Polizeikommissariat; er ist seit 1870 bei der Sicherheitswache, seit 1872 dem Detektiv-Büro zugeteilt und seit 1875 in Floridsdorf tätig. In der Mitte einer Schottergrube wird er gegen 8 Uhr morgens namentlich angerufen und dann vom Schuhmachergesellen Hermann Stellmacher (1853–1884) mit sieben Schüssen niedergestreckt, wobei ein Kopfschuss tödlich ist und Blöch an Ort und Stelle an Gehirnlähmung verstirbt. Hermann Stellmacher nimmt dessen Notizbuch, silberne Uhr samt Kette und Revolver, wird dann von Umstehenden verfolgt, setzt bei der Nordbahnbrücke über die Alte Donau, wo er von dort anwesenden fünf Taglöhnern, Gustav Bürner, Anton Fiedler, Albert Meloun, Johann Pillner (~1856–?) und Josef Swoboda, in einer nahe gelegenen Schottergrube bei der so genannten Bienerschen Überfuhr in den Schießstätten [zu Wien 21.] umstellt wird. Während der Verfolgung soll er den Arbeitern zugerufen haben: »Ihr Esel, ich habe es ja für Euch getan!« Von einem Steinwurf am Fuß getroffen, feuert Hermann Stellmacher zwei Schüsse ab, von denen einer Albert Meloun am rechten Fuß im Sprunggelenk trifft; er wird deswegen bis Montag den 10. März 1884 im Wiener Allgemeinen Krankenhaus bleiben müssen. Einen dritten Schuss will Hermann Stellmacher gegen sich selbst abgeben, strauchelt jedoch, und der Schuss versengt nur sein Haar. Der Attentäter wird nun überwältigt und von Wacheorganen vor der aufgebrachten Menge in Sicherheit gebracht, und zwar in das Polizeikommissariat Floridsdorf. Dort fällt eine eineinhalb Kilo schwere Blechkassette mit Dynamit und Bleikugeln zu Boden, explodiert aber nicht, weil die Zündstifte nicht eingesetzt sind. Im Verhör wird er am Montag dem 4. Februar 1884 dazu erklären: »Würde ich von der Polizei oder vom Militär verfolgt worden sein, so würde ich die Stifte sehr schnell haben einführen können und die Bombe geworfen haben, allein gegen Arbeiter und Privatpersonen, welche mich verfolgten, wollte ich die Bombe, die eine sehr starke Wirkung gehabt hätte, nicht in Anwendung bringen. Ich habe daher gegen die verfolgenden Arbeiter anfänglich zwei Schüsse nur um zu erschrecken, und ohne Absicht zu treffen, abgegeben, und erst als mir der eine zu nahe kam, schoß ich auf ihn, indem ich gegen seine Füße zielte.«14 Weiters werden bei Hermann Stellmacher die Waffe von Ferdinand Blöch, nämlich ein bis auf eine Kugel ausgeschossener Revolver Kaliber neun Millimeter, weiters ein Lederbeutel mit Munition, ein Dolch und zwei Fläschchen mit Flüssigkeiten zum Ankleben beziehungsweise Ablösen eines künstlichen Barts gefunden. Hermann Stellmacher, der zunächst alle Angaben zu seiner Person verweigert, wird noch am 25. Jänner um 11 Uhr 30 ins Polizeigefangenenhaus in Wien 6., Theobaldgasse 2, überstellt, wo er am Mittwoch dem 27. Februar 1884 wegen angeblicher Renitenz in Ketten gelegt wird.

  • 26. Jänner 1884 (Samstag) und 27. Jänner 1884 (Sonntag)
    Wien und Vororte: Am Vormittag des 26. Jänner 1884 werden aus Sicherheitsgründen in Floridsdorf (Niederösterreich [zu Wien 21.]), dem Ort der Ermordung des Polizeikonzipisten Franz Hlubek (1854–1883) (15. Dezember 1883) und des Polizei-Detektivs Ferdinand Blöch (1844–1884) (25. Jänner 1884), zwei Kompanien mit zusammen hundertsiebzig Mann des Infanterie-Regiments Nr. 38 Anton Freiherr Mollinary von Monte Pastello stationiert, welche auch vor Ort einquartiert werden. Am 27. Jänner 1884, um 2 Uhr frühmorgens, beginnen einige Arbeiter eine Auseinandersetzung mit einer Militärpatrouille. Im Zuge dessen wird der unterstandslose Maurergehilfe Wilhelm Chludaschek verhaftet und wegen Wachebeleidigung ins Kreisgericht Korneuburg (Niederösterreich) eingeliefert, weil er den Soldaten zuruft: »Ich bin ein Socialist, mit euch, ihr …... werden wir auch schon fertig werden!«15 Außerdem werden die Patrouillen der Sicherheitswache in den Straßen von Floridsdorf verstärkt durchgeführt. An diesem Tag wird auch verfügt, dass alle öffentlichen Lokale in Floridsdorf spätestens um 21 Uhr schließen müssen.

  • 27. Jänner 1884 (Samstag)
    Wien und Vororte: Am 27. Jänner 1884 beratet der Ministerrat »Maßnahmen gegen Sozialisten und Anarchisten«. Vorbereitet werden die geplanten Ausnahmsverordnungen »aus Anlaß der in letzter Zeit in Wien und dessen Umgebung vorgekommenen Ereignisse, der wiederholten Mordattentate und Raubfälle« durch eine vom Ministerpräsidenten Eduard Graf Taaffe (1833–1895) eingesetzte Kommission unter Vorsitz eines Sektionschefs des Innenministeriums, bestehend aus dem Statthalter von Niederösterreich und je einem Vertreter des Justizministeriums, der Polizei-Direktion Wien und der Staatsanwaltschaft. Die Vorschläge dieser Kommission bilden die Grundlage für die Beschlüsse des Ministerrats vom ►30. Jänner 1884.

  • 27. Jänner 1884 (Samstag)
    Wien und Vororte: Am Nachmittag des 27. Jänner 1884 wird der Pappendeckelerzeuger Arnold Brüllmayer (1864–?) am Südbahnhof verhaftet und als angeblicher Komplize des Attentats vom ►25. Jänner 1884 des Schuhmachergesellen Hermann Stellmacher (1853–1884) ins Polizeigefängnis Wien eingeliefert, am nächsten Tag jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt. Erst kürzlich hatte das Kreisgericht Korneuburg (Niederösterreich) eine Untersuchung gegen Arnold Brüllmayer wegen Majestätsbeleidigung eingestellt. Innerhalb der nächsten Tage werden noch mehrere Verhaftungen, meist arbeits- oder unterstandsloser Arbeiter, vorgenommen werden, teils, weil sie der Komplizenschaft mit dem Attentäter verdächtigt werden, teils, weil sie sich verdächtig geäußert haben sollen.

  • 27. Jänner 1884 (Samstag)
    Wien und Vororte: Am 27. Jänner 1884 findet in »Neßner’s Bierhalle« und Restauration »zum Stadtgut« (Johann Neßner) in Sechshaus (Niederösterreich [zu Wien 15.]), Sechshauser Hauptstraße 7 [Sechshauser Straße], das zweite Gründungsfest des »Allgemeinen Arbeitervereins« statt. Dieses wird zugleich als Ehrenfest für den am ►7. Jänner 1884 aus der Haft entlassenen Mechaniker Leo Walecka (1856–1914) gestaltet. Festredner ist der Maler- und Anstreichergehilfe Josef Peukert (1855–1910), der nach seiner Ansprache den Ehrengast Leo Walecka begrüßt. Der minutenlange Applaus veranlasst den Behördenvertreter die Begrüßung zu beanstanden, was Josef Peukert zur Entgegnung veranlasst: »Wer kann mich verhindern, einen Freund zu begrüßen, den wir Alle hochachten? Wenn ich will, kann ich jeden aus der Gesellschaft namentlich begrüßen.«16 Der Behördenvertreter verweist daraufhin Josef Peukert der Versammlung. Es kommt zu einem Tumult unter den Arbeitern, die rufen »Peukert wird verhaftet!«, »Das ist Willkür!« und »Wir dulden kein Unrecht!«. Der bei der Versammlung anwesende bekannte Advokat Friedrich Elbogen (1854–1909) kann dadurch Ruhe stiften, dass er sich verbürgt, dass Josef Peukert zwar auf das Inspektionszimmer mitgehen müsse, danach aber wieder zur Versammlung zurückkehren werde. Josef Peukert setzt sich zunächst aber an den Ehrentisch. Da er nicht im Inspektionszimmer erscheint, kehrt der Behördenvertreter zurück und eskortiert ihn, begleitet von einer großen Zahl Arbeiter, auf die Inspektion. Erst als Josef Peukert diese nach fünfzehn Minuten verlässt, kehrt Ruhe unter den Arbeitern ein. Es ist dies die letzte öffentliche Rede von Josef Peukert in Wien.

  • 28. Jänner 1884 (Montag)
    Wien und Vororte: Am 28. Jänner 1884 findet das Begräbnis das Begräbnis des am ►25. Jänner 1884 ermordeten Polizei-Detektivs Ferdinand Blöch (1844–1884) auf dem Friedhof in Floridsdorf (Niederösterreich [zu Wien 21.]) statt, wo er nicht weit entfernt vom Grab des am 15. Dezember 1883 ermordeten Polizeikonzipisten Franz Hlubek (1854–1883) beigesetzt wird. Ferdinand Blöch hinterlässt seine Ehefrau Aloisia Blöch (1849–?), der Kaiser Franz Joseph I. (1830–1916) am Montag dem 3. März 1884 im Gnadenweg eine jährliche Pension von 400 Gulden gewähren wird, und zwei kleine Kinder.

  • 28. Jänner 1884 (Montag)
    Wien und Vororte: Am 28. Jänner 1884 versammeln sich gegen 20 Uhr Arbeiter in Favoriten (Wien 10.). Sie ziehen singend und schreiend durch die Straßen: »Heut geht’s los!« und »Lasst’s ‘s jetzt losgehen!«. Berittene Wachleute unterstützen die Sicherheitswache und können die Demonstranten vorübergehend zerstreuen. Der Tischlergehilfe August Tichy wird als einer der Haupträdelsführer der Demonstration verhaftet, ebenso ein etwa achtzehnjähriger Bursche wegen Renitenz. Die Arbeiter marschieren anschließend nach Margareten (Wien 5.), wo sich weitere Demonstranten anschließen, und kehren danach zurück nach Favoriten.

  • 28. Jänner 1884 (Montag)
    Wien und Vororte: In der Nacht vom 28. auf Dienstag den 29. Jänner 1884 reist der Maler- und Anstreichergehilfe Josef Peukert (1855–1910) von Wien nach Hanau (Hessen-Nassau [Hessen]), wohin er zu einer Zeugenaussage im Prozess gegen Johann Christian Neve alias John Neve alias Ernst Stevens (1844–1896) vom Landgericht Hanau vorgeladen worden war. Die Verhandlung hätte ursprünglich bereits am Donnerstag dem 17. Jänner 1884 stattfinden sollen, wurde aber nach dem Nichterscheinen Josef Peukerts vertagt. Neben seiner neuerlichen Vorladung als Zeuge erhält Josef Peukert auf sein Ansuchen hin diesmal auch 60 Mark Reisegeld. (►31. Jänner 1884)

 

Autor: Reinhard Müller
Version: November 2024
Anarchistische Bibliothek | Archiv | Institut für Anarchismusforschung | Wien
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Daten
bis
29. Januar 1884
von
15. Dezember 1883
  • 1

    Vgl. Josef Peukert (1855–1910): Erinnerungen eines Proletariers aus der revolutionären Arbeiterbewegung. Berlin: Verlag des Sozialistischen Bundes 1913, S. 185.

  • 2

    Vgl. Rudolf Rocker (1873–1858): Johann Most. Das Leben eines Rebellen. Mit Vorwort von Alexander Berkman. Erstes bis fünftes Tausend. Berlin: Verlag: »Der Syndikalist«, Fritz Kater 1924, S. 191–192.

  • 3

    Vgl. J[ohann] Langhard (1855–1928): Die Verbrechen von Stellmacher und Kammerer, in ders.: Die anarchistische Bewegung in der Schweiz von ihren Anfängen bis zur Gegenwart und die internationalen Führer. Berlin: Verlag von O. Häring 1903, S. 263–279.

  • 4

    Zitiert in Rudolf Rocker (1873–1858): Johann Most. Das Leben eines Rebellen. Mit Vorwort von Alexander Berkman. Erstes bis fünftes Tausend. Berlin: Verlag: »Der Syndikalist«, Fritz Kater 1924, S. 189–190.

  • 5

    Vgl. Josef Peukert (1855–1910): Erinnerungen eines Proletariers aus der revolutionären Arbeiterbewegung. Berlin: Verlag des Sozialistischen Bundes 1913, S.  181

  • 6

    Zitiert nach [anonym]: Aus dem Gerichtssaale. [/] (Auflauf.), in: Neue Freie Presse [/] Morgenblatt (Wien), [21]. Jg., Nr. 6970 (22. Jänner 1884), S. 7.

  • 7

    Neue freie Presse Cisleithaniens. Nr. 3.Zur Richtschnur! [Wien]: [ohne Druckerangabe] [1883], Flugblattzeitung. Die Weiterverbreitung der Druckschrift wird mit Erkenntnis des Landes- als Pressgericht Wien vom 28. Dezember 1883 in Österreich verboten.

  • 8

    Zitiert nach [anonym]: Peukert’s letzte Rede in Wien, in: Wiener Allgemeine Zeitung [/] Morgenblatt (Wien), [5]. Jg., Nr. 1460 (22. Mai 1884), S. 6.

  • 9

    Zitiert nach [anonym]: Aus dem Gerichtssaale. [/] (Ein Kirchenexceß in Favoriten.), in: Die Presse (Wien), 37. Jg., Nr. 18 (18. Jänner 1884), S. 11. G’rist: Gerüst.

  • 10

    Vgl. [anonym]: Kleine Chronik. [/] (Ein Anarchist), in: Neue Freie Presse [/] Morgenblatt (Wien), [20]. Jg., Nr. 6948 (31. Dezember 1883), S. 2.

  • 11

    Zitiert nach [anonym]: Arbeiterversammlung, in: Das Vaterland. Zeitung für die österreichische Monarchie (Wien), 25. Jg., Nr. 7 (7. Jänner 1884), S. 4.

  • 12

    [Josef Peukert (1855–1910)]: Das Attentat in Jedlersdorf, in: Die Zukunft (Wien), 5. [recte 6.] Jg., Nr. 1 (10. Jänner 1884), S. [3].

  • 13

     Josef Peukert (1855–1910): Erinnerungen eines Proletariers aus der revolutionären Arbeiterbewegung. Berlin: Verlag des Sozialistischen Bundes 1913, S. 186.

  • 14

    Zitiert nach Anna Staudacher (geb. 1946): Sozialrevolutionäre und Anarchisten. Die andere Arbeiterbewegung vor Hainfeld. Die Radikale Arbeiter-Partei-Österreichs (1880 – 1884).Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1988 (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik. 39.), S. 222.

  • 15

    Zitiert nach [anonym]: Meuchlerische Ermordung eines Detectives, in: Neue Freie Presse [/] Morgenblatt (Wien), [21]. Jg., Nr. 6976 (28. Jänner 1884), S. 2–3, hier S. 3. ……: Scheißhelden.

  • 16

    Zitiert nach [anonym]: Ein gestörtes Arbeiterfest, in: Neuigkeits-Welt-Blatt (Wien), [11]. Jg., Nr. 25 (30. Jänner 1884), S. [5].