Heinrich Eisert sen. (1838–1884)
Persönliche Daten
Familienverhältnisse
Bruder: Adolf Eisert: Handelskommis, dann Finanzwachaufseher
1. Ehe: in Wien 1860 mit Franziska Louise Göbel (? – Wien 1870), Tochter einer Hausfrau und eines Seidenzeugfabrikanten: Hausfrau
Kinder: alle neun Kinder dieser Ehe starben im Kleinkindalter
2. Ehe: in Wien 1871 mit Bertha Göbel (um 1851–?), Tochter einer Hausfrau und eines Seidenzeugfabrikanten: Inhaberin eines Parfümeriewarengeschäfts
Sohn: Heinrich Eisert jun. (Wien um 1873 – Wien 26. Jänner 1884, ermordet): Attentatsopfer
Sohn: Rudolf Eisert (Wien um 1875 – Wien 10. Jänner 1884, ermordet): Attentatsopfer
Tochter: Bertha Eisert jun. (Wien um 1880 – ?)
Sohn: Paul Eisert (Wien um 1882 – Wien 10. November 1909): Handelsgesellschafter
Kinder: drei weitere Kinder starben im Kleinkindalter
Biographie
Heinrich Eisert sen. lebte zunächst in Fünfhaus (Niederösterreich [zu Wien 15.]), wo er mehrfach in den Gemeindrat gewählt wurde und wegen seiner sozialen Aktivitäten allgemeines Ansehen genoss. Er betrieb sein erstes Bank- und Wechselgeschäft in Wien 6., Mariahilfer Straße 103, als einer der beiden Gesellschafter der am 12. September 1873 registrierten und am 20. August 1878 gelöschten offenen Gesellschaft »H. Eisert & Brunn«. Ein Zwischenfall erregte allgemeines Aufsehen. Am 15. Mai 1877 kam Heinrich Eiserts Bruder Adolf Eisert, ein wegen Vagabundage mehrfach abgestrafter ehemaliger Kommis und Finanzwachaufseher, in das Geschäft seines Bruders, um wieder einmal Geld für sich einzufordern. Dabei versetzte er dem Geschäftsdiener einen Faustschlag ins Gesicht und zerstörte eine Glastafel im Geschäft. Dieser Auftritt des Adolf Eisert, der dafür sechs Wochen Arrest erhielt, war harmlos im Vergleich zu dem, was Heinrich Eisert sen. 1884 in seiner Wechselstube erleben musste. 1878 eröffnete Heinrich Eisert sen. das von ihm allein betriebenen Bank- und Vorschussgeschäft in Wien 6., Mariahilfer Straße 46, welches er 1881 als »Eisert’sche Wechselstube« nach Wien 6., Mariahilfer Straße 55, verlegte.
Am 10. Jänner 1884 wurde zwischen 17 Uhr 15 und 17 Uhr 30 die Eisert’sche Wechselstube in Wien 6., Mariahilfer Straße 55, von zwei oder drei Männern überfallen. Zwei Männer betraten die Wechselstube, gaben vor, russische Rubelscheine wechseln zu wollen, und streuten plötzlich dem dort anwesenden Besitzer Heinrich Eisert sen. Sand ins Gesicht. Heinrich Eisert sen. erhielt einige Schläge auf den Kopf – laut Gericht vom Buchbindergehilfen Anton Kammerer (1862–1884) –, konnte trotzdem, um Hilfe rufend, die Flucht ergreifen, wurde jedoch von einem Attentäter am Haustor eingeholt und mit einem Beil oder einer beilähnlichen Waffe niedergeschlagen. Danach kehrte der Täter in das Geschäftslokal zurück, um den Raub durchzuführen. Zweifelhaft ist, ob nun einer der beiden, oder ob ein dritter Täter, der bis dahin vor dem Geschäft Wache gestanden haben soll, in das bloß durch eine Glaswand getrennte Nebenzimmer ging, wo sich zwei Kinder Eiserts aufhielten. Diese wurden nun als Zeugen des Vorfalls ebenfalls mit einem Beil oder einem beilähnlichen Gegenstand niedergeschlagen: der neunjährige Rudolf Eisert (~1875–1884) starb noch an Ort und Stelle, sein elfjähriger Bruder Heinrich Eisert jun. (~1873–1884) überlebte zunächst das Attentat und wurde wie sein Vater später in das Allgemeine Krankenhaus, Wien 9., eingeliefert. Als Mörder der Kinder benannte das Gericht später den Schuhmachergesellen Hermann Stellmacher (1853–1884). Nur die beim Überfall gerade anwesende Französischlehrerin der Kinder, Karoline Berger (~1819–?), die ebenfalls – laut Polizei von Hermann Stellmacher – niedergeschlagen wurde, überlebte mit einer Kopfwunde schwer verletzt als einzige der Anwesenden das Attentat. Geraubt wurden 3.755 Gulden Bargeld und Wertpapiere im Wert von etwa 4.000 Gulden.
Zum Zeitpunkt des Überfalls war Heinrich Eiserts Ehefrau Bertha Eisert sen. (~1851–?) mit den beiden anderen Kindern, Bertha Eisert jun. und Paul Eisert (~1882–1909), in dem von ihr betriebenen Parfümeriewarengeschäft in Wien 6., Mariahilfer Straße 33.
Die Aufklärung des Raubmordes gestaltete sich schwierig. Bereits am Abend des 11. Jänner 1884, um 21 Uhr, wurde der als Mittäter am Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube verdächtigte ehemalige Gärtner und nunmehr arbeitslose Fensterputzer Josef Pongratz (~1852–?) in der Wohnung seiner Schwester, der Handarbeiterin Marie Srb, in Wien 6., Mariahilfer Straße 8, verhaftet und ins Polizeikommissariat Mariahilf, Wien 6., gebracht. Der wegen Betrugs, Diebstahls und Wachebeleidigung mehrfach Abgestrafte sowie bereits 1873 aus sämtlichen im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern (also aus der österreichischen Reichshälfte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie) Ausgewiesene war erst am 5. Jänner 1884 aus dem Wiener Landesgericht entlassen worden, weil das Verfahren wegen öffentlicher Gewalttätigkeit und schwerer körperlicher Beschädigung aus Mangel an Beweisen eingestellt werden musste. Er wohnte seither unter dem Namen »Emil Troitz« in Wien 6., Magdalenenstraße 32. Josef Pongratz, der erst Mitte März 1884 von der Beteiligung am Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube entlastet wurde, musste aber wegen eines mittlerweile nachgewiesenen Raubes weiter in Haft bleiben und wurde am 23. Mai 1884 vom Ausnahmsgerichtshof Wien wegen Diebstahls und einiger ihm angelasteter Übertretungen zu sechs Jahren schweren Kerker und anschließendem Landesverweis verurteilt.
Am Nachmittag des 12. Jänner 1884 wurde der als Mittäter am Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube verdächtigte Bronzearbeitergehilfe Johann Dürschner (1856–1886), wohnhaft in Wien 6., Mittelgasse 19, verhaftet. Dürschner hatte wegen Diebstahls bereits eine fünfzehnmonatige Haftstrafe in der Strafanstalt Suben (Oberösterreich) abgesessen, wo er angeblich 1873 den dort ebenfalls einsitzenden Josef Pongratz kennen gelernt haben soll. Dürschner stand seit einiger Zeit auch als Spitzel im Sold der Polizei. Als er sich im Zuge seiner Konfidententätigkeit am Nachmittag wieder bei der Polizei einfand, wurde er wegen seiner mittlerweile bekannt gewordenen Freundschaft mit dem bereits inhaftierten Josef Pongratz zum Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube befragt, verwickelte sich in Widersprüche und wurde schließlich inhaftiert. Weitere Verhaftungen erfolgten innerhalb der nächsten Tage, doch wurden alle Festgenommenen rasch wieder freigelassen. Lediglich Johann Dürschner und Josef Pongratz blieben in Haft und wurden am 21. Jänner 1884 ins Landesgericht Wien eingeliefert. Beide wurden von Zeugen agnosziert oder zumindest als den Tätern ähnlich sehend bezeichnet, etwa von Heinrich Eisert jun., der im Spital vor seinem Tod noch verhört werden konnte und dem die beiden Verhafteten vorgeführt wurden.
Heinrich Eisert sen. erlangte zwar im Spital sein Bewusstsein wieder, erlag aber am 22. Jänner 1884 seinen schweren Verletzungen. Kurz darauf, am 26. Jänner 1884, verstarb auch sein Sohn Heinrich Eisert jun. an den Folgen seiner schweren Verletzungen.
Noch vermutete die Polizei keinen politischen, sondern einen rein kriminellen Hintergrund für den Raubmord. Johann Dürschner und Josef Pongratz wurden erst Mitte März 1884 endgültig von der Beteiligung am Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube entlastet, wurden aber wegen des mittlerweile nachgewiesenen Überfalls vom 18. Dezember 1883 auf den Börsenhändler und nunmehrigen Privatier Samuel Kohn weiterhin in Haft behalten. Wegen dieses und anderer Verbrechen standen sie am 23. und 24. Mai 1884 vor dem Ausnahmsgerichtshof Wien, welches Josef Pongratz zu sechs Jahren schweren Kerker und anschließendem Landesverweis verurteilte, Johann Dürschner aber freisprach.
Vor dem Hintergrund des Überfalls auf die Eisert’sche Wechselstube und der Ermordung des Polizeikonzipisten Franz Hlubek (1854–1883) am 15. Dezember 1883 und des Polizei-Detektivs Ferdinand Blöch (1844–1884) am 25. Jänner 1884 beriet der Ministerrat am 27. Jänner 1884 »Maßnahmen gegen Sozialisten und Anarchisten«. Und Ministerpräsident Eduard Graf Taaffe (1833–1895) setzte eine Kommission unter Vorsitz eines Sektionschefs des Innenministeriums, bestehend aus dem Statthalter von Niederösterreich und je einem Vertreter des Justizministeriums, der Polizei-Direktion Wien und der Staatsanwaltschaft, ein, deren Vorschläge die Grundlage für die Beschlüsse des Ministerrats vom 30. Jänner 1884 bildeten: die mit 31. Jänner 1884 in Kraft getretenen Ausnahmsverordnungen vom 30. Jänner 1884 für die Gerichtsbezirke Wien, Korneuburg (Niederösterreich) und am 19. Dezember 1884 auch für den Gerichtsbezirk Wiener Neustadt (Niederösterreich). Folge der Verhängung der Ausnahmsverordnungen vom 30. Jänner 1884 waren unzählige Ausweisungen von Anhängerinnen und Anhängern der radicalen Arbeiterbewegung.
Eine entscheidende Wendung erhielten die polizeilichen Erhebungen zum Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube durch die Verhaftung des Schuhmachergesellen Hermann Stellmacher und des Buchbindergehilfen Anton Kammerer. Hermann Stellmacher wurde unmittelbar nach dem Attentat auf den Polizei-Detektiv Ferdinand Blöch am 25. Jänner 1884 festgenommen. Am 1. Februar 1882 wurde Stellmacher, dessen Identität der Polizei noch immer unbekannt war, vom Polizei-Gefangenenhaus ins Wiener Landesgericht überstellt. Erst am 3. Februar 1884 langte die Mitteilung der Polizei-Direktion Dresden (Sachsen) vom 1. Februar 1884 bei der Polizei-Direktion Wien ein, aufgrund welcher seine Identität endlich geklärt werden konnte. Hermann Stellmacher gestand schließlich am 4. Februar 1884 seine Identität.
Am 28. Februar 1884 konnte auch Anton Kammerer aufgrund vertraulicher Hinweise als Mörder des Polizeikonzipisten Franz Hlubek verhaftet werden. Er soll diese Tat später gestanden haben, die einzige der ihm angelasteten Taten, die er nachweislich begangen hat. Er wurde auch der Mittäterschaft am Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube verdächtigt. Am 15. März 1884 wurde Kammerer vom Polizeigefangenenhaus in der Theobaldgasse (Wien 6.) in einem Zellenwagen in das Landesgericht Wien überstellt, wo er wegen einer Disziplinarstrafe zeitweise auch in Eisen geschlagen, also angekettet wurde. Nach einem heftigen Kompetenzstreit zwischen dem Landes- und dem Militärgericht wurde Kammerer am 19. Mai 1884 vom Landesgericht Wien als Deserteur dem Garnisonsgericht Wien in der Alser Kaserne in Wien 9., Alser Straße 2, übergeben.
Die Wiener Polizei dehnte nunmehr ihre Ermittlungen bezüglich des Überfalls auf die Eisert’sche Wechselstube auf Ungarn aus. Über Ersuchen der Wiener Polizei erhielt am 1. März 1884 in Budapest (Ungarn) der Schneidergehilfe und nunmehrige Fabrikarbeiter und Redakteur Ármin Práger (1851–1905) um 6 Uhr morgens beim Verlassen seiner Wohnung auf offener Straße eine Vorladung zur Ober-Stadthauptmannschaft, wo er gemeinsam mit seinem Rechtsvertreter pünktlich um 9 Uhr erschien. Er wurde nämlich im Zusammenhang mit dem Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube gesucht. Bei der nun durchgeführten Durchsuchung von Ármin Prágers Wohnung wurden die erhofften Wertpapiere aus dem Eisert’schen Überfall nicht gefunden, dafür aber mehrere Exemplare der Zeitungen »Freiheit« (New York), »Die Zukunft« (Budapest) und »Radikal« (Budapest) sowie das am 24. Februar 1884 erstmals ausgestreute Flugblattgedicht »An Se. ›Excellenz‹ den Minister Taaffe. Vorwärts Staatsraison!«.1 Ármin Práger wurde daraufhin festgenommen und am 2. März 1884 der Staatsanwaltschaft eingeliefert, welche nun wegen Aufreizung gegen die Behörde sowie Ehrenbeleidigung und Verleumdung des Ministerpräsidenten ermittelte. Am 13. März 1884 gab es in Budapest eine Verhaftungswelle gegen Radicale wegen angeblicher Mitschuld am Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube, in deren Verlauf bis in die frühen Morgenstunden des 14. März 1884 sechsunddreißig Personen festgenommen wurden. Neunzehn von ihnen wurden nach ersten Vernehmungen freigelassen und teilweise abgeschafft beziehungsweise ausgewiesen, siebzehn am 25. März 1884 in das Strafgericht Budapest eingeliefert. In der Nacht vom 30. auf den 31. März 1884 wurden weitere neun Radicale in Budapest verhaftet. Zum Hintergrund: Am 4. Februar 1884 kam aus Zürich / Zurich / Zurigo (Kanton Zürich) Anton Kammerer nach Budapest, reiste am nächsten Tag wieder ab, um wenige Tage später erneut nach Budapest zurückzukehren. Hier soll er nach Vermutungen der Polizei beim Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube erbeutete Wertpapiere Genossen übergeben haben. Außerdem habe er Ármin Práger mehrfach getroffen und diesem 15 Gulden übergeben. Einen Teil der geraubten Wertpapiere, nämlich vierundzwanzig Stück Liesinger Brauerei-Aktien, soll Anton Kammerer unter dem Decknamen »Konrad Wilkens« am 8. Februar 1884 in der Wechselstube der Escompte- und Wechslerbank in Budapest selbst deponiert haben. Weitere Wertpapiere habe der Hausknecht Salomon Blau am nächsten Tag dieser Bank verkauft. Außerdem soll Kammerer am 10. Februar 1884 dem Buchhalter Jónás Gyula Fried (1864–1929) 25 Gulden vom Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube übergeben haben. Die von Salomon Blau verkauften Papiere, welche erst am 20. März 1884 von der Polizei ausfindig gemacht wurden, führten schließlich dazu, dass die Budapester Polizei eine Involvierung ungarischer Radicaler in den Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube annahm. Diese ganze Affäre bot den Budapester Behörden, in den nächsten Monaten die radicale Arbeiterbewegung in Ungarn fast vollständig zu zerschlagen.
Am 7. April 1884 fand vor dem Ausnahmsgericht Wien der erste Prozess im Zusammenhang mit dem Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube statt. Der am 4. Februar 1884 verhaftete Damenschneidergehilfe Anton Král (~1859–?) wurde des Verbrechens des Hochverrats und der Überschreitung durch Vorschubleistung zur Falschmeldung angeklagt. Unter Anton Králs Namen und mit dessen Arbeitsbuch hatte sich Hermann Stellmacher in Wien am 13. Jänner 1884 einquartiert. Anton Král, der angab, das Arbeitsbuch bereits am 9. Juli 1883 auf dem Konskriptionsamt verloren zu haben, wurde zu fünf Jahren schweren Kerker mit anschließender Abschaffung aus dem Wiener Polizeirayon verurteilt.
Am 24. April 1884 fand vor dem Ausnahmsgericht Wien im Zusammenhang mit dem Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube der nächste Prozess statt. Der Kesselheizer in einer Gasfabrik Mathias Dokupil (1851–?) wurde des Verbrechens der Vorschubleistung und der Begünstigung eines Deserteurs angeklagt. Dokupil gestand, dem fahnenflüchtigen Anton Kammerer eine Warnung hinterlassen zu haben, dass er erkannt worden sei. Nachdem der Staatsanwalt die Anklage auf ein niedrigeres Strafmaß restringierte, wurde Matthias Dokupil zu vier Monaten schweren Kerker, verschärft durch einen Fasttag im Monat Mai, verurteilt.
Am 3. Juni 1884 beschrieb der in Budapest inhaftierte Bankbuchhalter Jónás Gyula Fried (1864–1929) jene dritte Person, die beim Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube als Aufpasser beteiligt gewesen sein soll. Außerdem belastete er angeblich Anton Kammerer und Hermann Stellmacher als ausführende Täter.
Am 9. und 10. Juni 1884 fand vor dem Ausnahmsgericht Wien der Prozess gegen Hermann Stellmacher statt.2 Er wurde der Verbrechen des teils vollbrachten, teils versuchten Raubmords an Heinrich Eisert sen., seinen Kindern Rudolf Eisert und Heinrich Eisert jun. und der Französischlehrerin Karoline Berger, des vollbrachten gemeinen Mords am Polizei-Detektiv Ferdinand Blöch, des versuchten gemeinen Mords am Taglöhner Albert Meloun sowie der Übertretung des Diebstahls an Ferdinand Blöch und Übertretung gegen öffentliche Anstalten und Vorkehrungen durch Falschmeldung unter dem Namen »Anton Král« angeklagt. Stellmacher, der sich nur des Mords an Ferdinand Blöch schuldig bekannte, wurde des versuchten Mords an Albert Meloun freigesprochen, aber wegen Verbrechens des teils vollbrachten und teils versuchten Mords, des gemeinen Mords, des Verbrechens der schweren Körperverletzung an Albert Meloun und der Übertretung des Diebstahls schuldig gesprochen und am 10. Juni 1884 zum Tod durch den Strang sowie zur Bezahlung der Verfahrenskosten und eines Schadenersatzes an die Witwe Bertha Eisert sen. in der Höhe von 6.970 Gulden verurteilt. Der Verteidiger legte Berufung gegen das Urteil ein, das Gericht wiederum beschloss, Hermann Stellmacher nicht der Gnade des Monarchen zu empfehlen. Die Nichtigkeitsbeschwerde wurde vom Obersten Gerichtshof in geheimer Sitzung am 28. Juli 1884 zurückgewiesen. Hermann Stellmacher wurde am 8. August 1884 um fünf Uhr morgens im Hof Nummer 3 des Landesgerichts Wien hingerichtet.3
Am 5. und 6. September 1884 fand vor dem Kriegsgericht Wien, bestehend aus acht Personen mit verschiedenen militärischen Chargen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit der Prozess gegen Anton Kammerer statt. Kammerer hatte während der Verhöre im Wiener Landesgericht keinerlei Aussagen gemacht. Er soll aber am 11. Juli 1884 aufsehenerregende Geständnisse gemacht haben. Dabei soll er nicht nur den Mord am Polizeikonzipisten Franz Hlubek am 15. Dezember 1883 zugegeben haben, sondern auch seine Beteiligung am Raubmord beim Überfall auf die Eisert’sche Wechselstube am 10. Jänner 1884, den Raubmord am Apothekergehilfen Franz Lienhardt (~1833–1883) und den Mord am Soldaten Johann Adels (?–1883) in Straßburg (Elsaß-Lothringen [Strasbourg, Frankreich]) am 22. Oktober 1883 sowie den Raub in der Firma »J. A. Heilbronner, Bank- und Wechselgeschäft« des Bankiers Josef Heilbronner (1850–1930) in Stuttgart (Württemberg [Baden-Württemberg]) am 21. November 1883. Die Authentizität der Geständnisse von Anton Kammerer ist anzuzweifeln: Es gibt nur eine umfangreiche Zusammenfassung angeblicher Geständnisse und ein zusammenfassendes Urteil sowie einige Informationen im Arrestantenprotokoll. Von allen anderen Prozessen gegen Radicale, deren Akten nicht vernichtet wurden, gibt es Vernehmungsprotokolle, die Bogen für Bogen vom Vernommenen unterzeichnet wurden, und im Falle einer Verweigerung dieser Unterschrift wurde dies vermerkt. Nur von Anton Kammerer, der angeblich so sensationelle Geständnisse gemacht haben soll, gibt es kein einziges von ihm unterzeichnetes Protokoll. Das Kriegsgericht verurteilte Anton Kammerer wegen der Verbrechen des Raubs, des gemeinen Mords und des teils versuchten, teils vollbrachten mehrfachen meuchlerischen Raubmords, der Mitschuld am Mord, der Desertion unter erschwerenden Umständen, des Vergehens des Betrugs und der Übertretungen der Falschmeldung und des Waffenpatents zur Ausstoßung aus der Armee und zum Tod durch den Strang. Am 15. September 1884 wurde das vom Kriegsgericht Wien verhängte Todesurteil vom 2. Korpskommando bestätigt. Am 20. September 1884 wurde um fünf Uhr dreißig morgens im so genannten Bandahof der Alser Kaserne in Wien 9., Alser Straße 2, Anton Kammerer gehenkt, wobei der Tod erst nach acht Minuten eintrat.
Am 9. Februar 1885 wurde im Sprechzimmer der Gefangenenanstalt des Landesgerichts Wien der Nachlass von Hermann Stellmacher versteigert. Der Gesamterlös der Versteigerung von neun Gulden wurde zur Deckung der Hinrichtungs- und Begräbniskosten verwendet; ein etwaiger Überschuss sollte an die Witwe von Heinrich Eisert sen., Bertha Eisert sen., gehen.
Die Folgen des Überfalls auf die Eisert’sche Wechselstube waren enorm. Die Verhängung des Ausnahmezustands über Wien, Korneuburg (Niederösterreich) und Wiener Neustadt (Niederösterreich) führte zu einer Verschiebung des Zentrums der radicalen Arbeiterbewegung von Wien in die Provinz, vor allem nach Graz (Steiermark) und Linz an der Donau (Oberösterreich). Die Ausweisungen und Abschaffungen im Zuge der Ausnahmsverordnungen vom 30. Jänner 1884 zeitigten eine enorme Schwächung der radicalen Arbeiterbewegung in Österreich und diente als Vorwand für deren fast vollständige Vernichtung in Ungarn. Vor allem aber wurde die Spaltung der radicalen Arbeiterbewegung beschleunigt. Nicht alle Radicalen waren mit den terroristischen Aktionen einverstanden. Einige näherten sich den Gemäßigten an, andere versuchten später, eine anarchistische Bewegung in Österreich ins Leben zu rufen. Ein Pionier dieser anarchistischen Bewegung war der Maler- und Anstreichergehilfe Josef Peukert (1855–1910). Von der Täterschaft von Anton Kammerer und Hermann Stellmacher ausgehend, schrieb er später über diese tragische Zeit: »So war ich einige Tage beruhigt, bis mir ein Genosse Andeutungen machte, die meine erste Befürchtung nur bestätigten. Ich war völlig konsterniert! – die Tat war unter den gegebenen Verhältnissen geradezu wahnsinnig! und der moralische Eindruck mußte, sobald die Täter als Genossen ermittelt wurden, naturgemäß ganz vernichend [!] auf die Bewegung wirken. Wie im Traume sah ich bereits alle Erfolge unserer mühevollen, opferreichen Tätigkeit unter den ehernen Tritten der Reaktion verschwinden. Man konnte es auch bereits aus den Artikeln der Tagespresse herausfühlen: es wurde für einen großen Hauptschlag gegen uns Stimmung gemacht. Meine Stellung war hierbei eine furchtbar peinliche. Eine Tat verteidigen, die ich selbst verdammte, da sie gewissermaßen mit einem Schlage vernichten konnte, was ich mit dem Aufgebote meines ganzen Fühlens und Denkens, mit meiner ganzen Energie und Aufopferung mühsam aufgebaut! Und doch war ich überzeugt, daß auch die Verüber dieser Tat mit dem Einsatze ihres Lebens derselben guten Sache zu dienen vermeinten. Wie ich über diese Situation schließlich noch mit ruhigem Blute hinübergekommen, begreife ich selbst heute noch nicht.«4
Adressen
- Fünfhaus, Niederösterreich [zu Wien 15.], Stadiongasse 30 [Robert-Hamerling-Gasse] (Wohnadresse 1877)
- Wien 6., Mariahilfer Straße 55 (letzte Wohn- und Geschäftsadresse)
- Allgemeines Krankenhaus, Wien 9., Alser Straße 4 (Sterbeadresse)
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Autor: Reinhard Müller
Version: November 2024
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