Die Autonomisten. 1887 bis 1889

Am 20. Jänner 1885 legte die Regierung unter Ministerpräsident Eduard Graf Taaffe (1833–1895) dem Reichsrat in Wien zwei Entwürfe eines dem deutschen »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« vom 22. Oktober 1878 nachgebildeten Sozialistengesetzes vor: »Der Gesetzentwurf, womit Bestimmungen gegen gemeingefährliche sozialistische Bestrebungen getroffen werden« und »Das Gesetz, betreffend Anordnungen gegen den gemeingefährlichen Gebrauch von Sprengstoffen und die gemeingefährliche Gebahrung mit denselben«. Kernstück des ersten Gesetzentwurfs war die Ausweitung des Ausnahmezustands auf alle im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder (also auf die österreichische Reichshälfte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie). In den Zeitungen wird diesbezüglich bereits von »Anarchisten-Gesetzen« gesprochen. Die erste Lesung fand am 23. Jänner 1885 statt. Wegen der Schließung der Session des Reichsrats konnte der Entwurf erst in der nächsten Legislaturperiode zur Sprache kommen. Erst im Juni 1886 verabschiedete die Regierung dieses explizite Anarchistengesetz.1 Anders als in vielen anderen Staaten, wo angehörige der Arbeiterbewegung verfolgt wurden, zielte dieses in Österreich nicht generell auf Sozialisten ab, sondern richtete sich ausschließlich gegen Anarchistinnen und Anarchisten, oder genauer gesagt gegen solche, die man zu »Anarchistinnen« und »Anarchisten« erklärte. Hatte die Propaganda der Tat einiger Sozialrevolutionäre die radicale Arbeiterbewegung in den Untergrund gedrängt und den in Österreich eben erst keimenden Anarchismus fast vollständig erstickt, so bot dieses Gesetz den Gemäßigten die Möglichkeit, in öffentlicher Agitation und Propaganda verlorenes Terrain in der österreichischen Arbeiterbewegung zurück zu gewinnen.

Vor diesem Hintergrund trat der Schneidergehilfe Johann Risman (1864–1936) am 21. Februar 1886 eine ausgedehnte Agitationsreise durch die Steiermark, durch Kärnten, Tirol, Salzburg und Oberösterreich an, um die Frage eines Sozialistengesetzes zu erörtern. Angesichts dieser behördlichen Bestrebungen sprach sich Risman trotz steigender Auflagenzahl für die Einstellung der Zeitung »Die Arbeit« (Graz) aus. An deren Stelle wollte Risman ein geheim gedrucktes Organ erscheinen lassen. Dieser Rat zur Vorsicht, der zunächst unter den Radicalen auf wenig Gegenliebe stieß, war nicht ganz unbegründet. Während Rismans Abwesenheit aus Graz (Steiermark) flüchtete der Schuhmachergehilfe Franz Göpfhardt (1857–1942), verantwortlicher Schriftleiter der Zeitung »Die Arbeit«, in der Nacht zum 23. März 1886 aus Graz. Grund war ein stafgerichtliches Verfahren, das gegen Göpfhardt wegen einer am 15. März 1886 gehaltenen Rede eingeleitet worden war. Einige Tage später in Lindau (Bayern) festgenommen, wurde Göpfhardt später zwar freigesprochen, doch am 18. Juli 1886 mit mehreren Genossen in Feldkirchen / Trg (Kärnten)  neuerlich verhaftet: diesmal, weil er bei Josef Peukert (1855–1910) in London (England) ein Paket revolutionärer Flugschriften bestellt hatte. Am 6. und 7. Dezember 1886 fand vor dem Landes- als Ausnahmsgericht Klagenfurt / Celovec der Prozess gegen drei Radicale statt. Göpfhart wurde wegen Verbrechens der Störung der öffentlichen Ruhe zu zehn Jahren schwerem Kerker verurteilt, verschärft mit einem Fasttag monatlich.

Inzwischen, mit der Nummer vom 16. April 1886, musste die Zeitung »Die Arbeit« ihr Erscheinen einstellen. Grund waren nicht zuletzt die finanziellen Schwierigkeiten, zu denen auch die zahlreichen Konfiskationen – von den siebzehn erschienenen Nummern wurden neun beschlagnahmt – beigetragen haben. Das verbliebene Defizit von 500 Kronen – wobei allein aus Wien 390 Kronen Abonnentengelder ausständig waren – führte innerhalb der steirischen Arbeiterschaft zu heftigen Auseinandersetzungen, so dass Johann Risman am 3. Mai 1886 Graz Richtung Schweiz verließ, von wo aus er sich nach Paris (Frankreich) begab. Die Polizei nahm wohl richtig an, dass er sich auf seiner Reise Rat bei Josef Peukerts Anhängern geholt hatte.

Als Johann Risman am 18. August 1886 nach Graz zurückkehrte, fand er hier eine völlig zerstrittene, organisatorisch in Auflösung befindliche Arbeiterbewegung vor. Er versammelte nun Radicale in geheimen Tischgesellschaften, aus denen die wenigen Gemäßigten am 8. September 1886 ausschieden. Der Vorschlag der Gemäßigten, sich auf Basis des Eisenacher Programms der deutschen Sozialdemokratie neu zu organisieren, wurde von den Radicalen abgelehnt; sie wollten die geheime Organisation, allerdings in Verbindung mit öffentlicher Propaganda. Zu einer ersten öffentlichen Kraftprobe zwischen Radicalen und Gemäßigten kam es anlässlich des von der Regierung am 5. Oktober 1886 eingebrachten Entwurfs über die Errichtung von Arbeiterkammern. Risman lehnte diesen Vorschlag als ein Ablenkungsmanöver und Beruhigungsmittel ab. Auch die parlamentarische Beratung des Unfall- und Krankenversicherungsgesetzes im Februar 1887 führte zu neuerlichen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Flügeln, wobei diese nunmehr ein solches Ausmaß annahmen, dass die Arbeiterbewegung in der Steiermark für ein halbes Jahr beinah zum Erliegen kam. Selbst innerhalb der Radicalen kam es nun im Mai 1887 zu einer Spaltung: Johann Risman und sein Vertrauter, der Comptoirist Josef Tikal (1865–1891), bekannten sich nunmehr voll zu den von Josef Peukert in der anarchistisch-kommunistische Zeitung »Die Autonomie« (London) vertretenen Prinzipien. Die beiden Arbeiterführer und ihre Gefolgschaft wurden deshalb als »Autonomisten« bezeichnet, ein Name, den Risman und Genossen bald als Selbstbezeichnung annahmen.

Zunächst einmal bemühten sich die Autonomisten um die Wiederbelebung der Zeitung »Die Arbeit«. Allein die Suche nach einem Drucker bedeutete bereits ein schwieriges Unterfangen, denn nicht jeder Druckereibesitzer war bereit, sich auf ein finanziell wie polizeilich derart riskantes Unternehmen einzulassen. Weder in Marburg an der Drau (Steiermark [Maribor, Slowenien]), noch in Klagenfurt am Wörthersee / Celovec ob Vrbskem jezeru (Kärnten) und Villach / Beljak (Kärnten), auch nicht in Laibach (Krain [Ljubljana, Slowenien]) konnte zunächst eine Druckerei gefunden werden. Diese Städte sowie Linz an der Donau waren die Zentren der Anhänger Rismans. In Wien waren nur Ansätze einer radicalen Organisation vorhanden, die sich vor allem im Umfeld des »Fachvereins der Bäcker« sammelten.2 Während die steirischen Autonomisten einen Drucker suchten, fungierte der damals siebenundzwanzigjährige Bäckergehilfe August Krčal (1860–1894) in Wien als agitatorischer Brückenkopf, warb aber auch in Nordböhmen für das neu zu gründende Organ. Endlich war es so weit: Am 5. Mai 1887 sollte die erste Nummer der neuen Zeitung »Arbeit« in Marburg an der Drau erschienen, doch kurz vor diesem Termin sandte der Drucker nach vorheriger Intervention des Bezirkshauptmanns die Manuskripte an die Grazer Autonomisten zurück. Schließlich konnte am 3. Juni 1887 die erste Nummer der Zeitung »Arbeit« in Villach / Beljak erscheinen. Der damit wiedergewonnene Einfluss der Anhänger Rismans, welche in den Alpenländern ihre Hochburg hatten, wurde dadurch so groß, dass die von den Gemäßigten geplante Konferenz zur Bildung einer österreichischen Einheitspartei zunächst zum Scheitern gebracht wurde. Doch die Freude der Autonomisten währte nur kurz. Nach der am 16. April 1886 erschienenen zweiten Nummer musste der Herausgeber am 7. Juli 1887 die Einstellung der Zeitung »Arbeit« melden, da die finanzielle Lage ein Weitererscheinen unmöglich mache.

Auf dem am 14. und 15. August 1887 in Linz an der Donau abgehaltenen Fahnenweihefest des dortigen »Arbeiter-Sängerbundes« wurden jedoch wieder Stimmen laut, die Zeitung »Arbeit« fortzusetzen. Es kam aber zum Bruch zwischen den steirischen Autonomisten und den Linzer Radicalen, weil sich Johann Risman weigerte, die Redaktion zu übernehmen. Zwar sollte in Linz an der Donau am 6. Oktober 1887 die erste und einzige Nummer der Zeitung »Arbeit« (Linz) als Nummer 3 des 1. Jahrgangs erscheinen, doch wurden noch vor deren Auslieferung die einzigen drei gedruckten Exemplare konfisziert. Als Herausgeber zeichneten für diese Nummer der erst am 27. September 1887 hierher übersiedelte Josef Tikal für Linz an der Donau, der Schriftsetzergehilfe und Journalist Rudolf Hanser (1859–1909) für Wien und Johann Risman für Graz, als verantwortlicher Redakteur aber der Schneidergehilfe Johann Neander (1849–1899), ein Vertreter der Gemäßigten.

Schließlich wurde auf Drängen von Rudolf Hanser und mit zögerlicher Zustimmung von Johann Risman beschlossen, die Zeitung zukünftig in Wien erscheinen zu lassen. Die erste Nummer des 1. Jahrgangs der Zeitung »Arbeit« (Wien) erschien 27. Oktober 1887. Als Herausgeber zeichneten Josef Tikal für Wien und seit 10. November 1887 Johann Risman für Graz, als Redakteur stets Rudolf Hanser in Wien. Aber mit der fünften Nummer vom 22. Dezember 1887 musste die Zeitung »Arbeit« – nunmehr endgültig – ihr Erscheinen einstellen.

Damit hatten die Radicalen der österreichischen Arbeiterbewegung, vor allem aber die Autonomisten ihr Sprachrohr verloren. Zurück blieben finanzielle Lasten und enorme Spannungen unter den Radicalen von Linz an der Donau, Wien und Graz, wobei in Graz die Bewegung sogar in Radicale älteren Typs und in die explizit anarchistischen Autonomisten gespalten war. In dieser Situation hatten es der Führer der Gemäßigten, der Arzt und Journalist Victor Adler (1852–1918), und seine Zeitung »Gleichheit« (Wien), welche nun das Monopol in der Medienlandschaft der österreichischen Arbeiterbewegung hatte, leicht, mit ihrem Vorschlag zur Einberufung eines Einigungsparteitags durchzudringen. Lediglich in Klagenfurt am Wörthersee / Celovec ob Vrbskem jezeru und Graz wurde noch opponiert, doch erlitten die Grazer einen neuerlichen Rückschlag, als der von ihnen zu Victor Adler entsandte Schneidergehilfe Eduard König (1858–1928) am 22. April 1888 am Wiener Westbahnhof verhaftet wurde. Dennoch hielt sich der Widerstand der Steirer so hartnäckig, dass Adler seinen Vertrauten, den Eisendreher Rudolf Pokorny (1862–1912), nach Graz schickte. Aber erst am 8. Dezember 1888 erteilten die Grazer Radicalen ihre Zustimmung zum später so genannten Einigungsparteitag, wobei Johann Risman als Sprecher der Autonomisten seine prinzipielle Ablehnung dieses Parteitags dahingehend abänderte, dass er für einen geheimen, im Ausland abzuhaltenden Kongress eintrat. Außerdem betonte er, die Arbeiter lieber als Kaste denn als Partei organisiert zu sehen.

 

Autor: Reinhard Müller
Version: Mai 2025
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Daten
von
1887
bis
1889
  • 1

    Vgl. Gesetz vom 25. Juni 1886, womit Bestimmungen über die Gerichtsbarkeit in Strafsachen, welchen anarchistische Bestrebungen zu Grunde liegen, erlassen werden, in: Reichsgesetzblatt für die im Reichsrath vertretenen Königreiche und Länder (Wien), Nr. 98, unterzeichnet von Franz Joseph I. (1830–1916), Kaiser von Österreich, Apostolischer König von Ungarn, König von Böhmen, König von Kroatien-Slawonien und Dalmatien und Erzherzog von Österreich, von Eduard Graf Taaffe (1833–1895), von 1869 bis 1870 und 1870 bis 1893 Ministerpräsident, und von Alois von Pražák (1820–1901), von 1881 bis 1888 k. k. Justizminister.

  • 2

    Im Februar 1887 gab der »Fachverein der Bäcker« eine anonym erschienene, von August Krčal (1860–1894) verfasste und zusammengestellte Broschüre heraus, die allerdings noch ganz in der Tradition der Radicalen stand; vgl. Geschichte des Fachvereines der Bäcker Wiens von der Gründung bis Ende December 1886. Herausgegeben vom Fachverein. Wien: Selbstverlag des Vereines 1887, 16 S. Anonym erschienen. Enthält [August Krčal]: Die Geschichte des Fachvereines, S. 3–6; [anonym]: Thätigkeit des Vereines seit der Gründung bis Ende December 1886, S. 7–14; Der Ausschuß: Genossen!, S. 15–16. Auch die Zusammenstellung der Broschüre erfolgte durch August Krčal.