Der Wegbereiter »Die Arbeit« (1885–1886)

Ein wichtiger Wegbereiter für die anarchistische Bewegung der Autonomisten war die Zeitung »Die Arbeit«. Sie war letztlich das Produkt der zunehmenden Radikalisierung der österreichischen Arbeiterbewegung. Diese zeigte sich auch in einer Häufung von Gewaltakten, die in Wien in der Ermordung zweier Polizisten und in einem Raubmord gipfelten. Am 15. Dezember 1883 erschoss der Buchbindergehilfe Anton Kammerer (1862–1884) den Polizeikonzipisten Franz Hlubek (1854–1883) und am 25. Jänner 1884  erschoss der Schuhmachergeselle Hermann Stellmacher (1853–1884) den Polizei-Detektiv Ferdinand Blöch (1844–1884). Diesen beiden Attentätern wurde auch der Überfall auf die »Eisert’sche Wechselstube« vom 10. Jänner 1884 angelastet, bei dem deren Inhaber Heinrich Eisert sen. (~1838–1884) sowie seine beiden Kinder Heinrich Eisert jun. (~1873–1884) und Rudolf Eisert (~1875–1884) ermordet wurden. Mit der Hinrichtung von Anton Kammerer und Hermann Stellmacher gab es zwar die ersten auch international wahrgenommenen »Märtyrer« der radicalen Arbeiterbewgung Österreichs. Andererseits bildeten diese Attentate für die Behörden den Vorwand, den Ausnahmezustand zu verhängen, die Ausnahmsverordnungen vom 30. Januar 1884 über die Gerichzsbezirke Wien, Korneuburg (Niederösterreich) und Wiener-Neustadt (Niederösterreich). Hunderte Arbeiter wurden ausgewiesen, gingen teilweise ins Ausland, begaben sich aber auch in die so genannte Provinz, vor allem nach Oberösterreich, Kärnten und in der Steiermark.

Die Attentate und der Ausnahmezustand hatten einen Wenderpunkt in der raducalen Arbeiterbewegung Österreichs zur Folge. Wien verlor seine führende Rolle und die Steiermark wurde deren neues Zentrum. Doch auch hier versuchten die Behörden durch konsequente Verfolgung die radicale Arbeiterbewegung zu eliminieren. So fand vom 11. bis 25. Juni 1884 in Graz (Steiermark) ein Hochverratsprozess gegen zweiundzwanzig Radicale statt, doch sprach sie das Gericht vom Verbrechen des Hochverrats frei; allerdings erhielten zehn Angeklagte wegen des Verbrechens der Störung der Ruhe verhältnismäßig hohe Gefängnisstrafen zwischen dreieinhalb Jahren und dreizehn Monaten. Dennoch wuchs hier die Bewegung der Radicalen, während der Verein der Grazer Gemäßigten 1885 seine Tätigkeit aus Mitgliedermangel einstellen musste. Am 28. Juni 1885 beschlossen Radicale aus der Steiermark und aus Kärnten auf einer nahe Leoben (Steiermark) abgehaltenen Vertrauensmännerkonferenz eine neue Organisationsform: das Fünfer-Gruppensystem. Dieses orientierte sich an jenem Organisationsprinzip, das auf dem International Social Revolutionary Congress (Internationaler sozialrevolutionärer Kongress), abgehalten vom 14. bis 20. Juli 1881 in London (England), vorgeschlagen  worden war. Konkret bedeutete dies, »daß nicht nur eine Centrale sondern auch Gruppen bestehen und daß die Massen sich nicht auf eine Centrale verlassen und die Centrale nicht auf die Gruppen, mit einem Wort, daß sich nicht eins aufs andere verläßt und schließlich niemand nichts tut. Drum soll in allen größeren Städten wie hier erwähnt, organisiert werden, in wichtigen öffentlichen Fragen soll gemeinsam besprochen werden, die Tätigkeit jedoch in Gruppen ausgeübt, welche in ihren Arbeiten geteilt sein müssen, somit treibt dann ein Teil den andern und kann kein Stillstand entstehen. Die Gruppen sind eingeteilt in: 1. Die Organisationsgruppe, welche zugleich die Centrale ist. 2. Die Gruppe für Literatur. 3. Die Gruppe für Chemie. 4. Die Gruppe für Finanz. 5. Die Gruppe für Diplomatie, jedoch kann letztere in erstere mit einbezogen werden.«1 Zwar wurde dieses Organisationskonzept nicht in die Praxis umgesetzt, doch tauchte in dieser entscheidenden Situation theoretischer Neuorientierung der noch keine einundzwanzig Jahre alte Schneidergehilfe Johann Risman (1864–1936) auf, der rasch zur treibenden Kraft nicht nur innerhalb der steirischen, sondern in der gesamten österreichischen radicalen Arbeiterbewegung wurde. Mit Hilfe einiger Genossen gründete er das seit Verhängung der Ausnahmsverordnungen vom 30. Jänner 1884 einzig bedeutsame Organ der Radicalen; »Die Arbeit«. Damit wurde die Agitation der Radicalen wiederbelebt, die nun vor allem jugendliche Arbeiter ansprach und auch außerhalb der Steiermark Spuren hinterließ.

Die Zeitung »Die Arbeit. Sozialdemokratisches Organ der Arbeiter Oesterreichs« erschien unter dem Motto »Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen!« zunächst in Marburg an der Drau (Steiermark [Maribor, Slowenien]), seit der Nummer 9 vom 8. Dezember 1885 in Graz (Steiermark). Die zwei Jahrgänge mit insgesamt siebzehn Nummern erschienen zwischen dem 6. August 1885 und dem 16. April 1886 mit zusammen achtundsechzig Seiten.2 Herausgeber waren der Schuhmachergehilfe Johann Maritschnig (~1846–?) und der Schneidergehilfe Johann Risman (1864–1936). Als verantwortlicher Schriftleiter zeichneten der Schuhmachergehilfe Franz Göpfhardt (1857–1942), der Tischlergehilfe Johann Reisenhofer (~1843–1894) und der Krankenkassenangestellte Michael Schuster. Die vierzehntägig erscheinende Zeitung kann noch nicht als anarchistisches Organ eingeschätzt werden. Fast alle Artikel sind anonym erschienen, doch kann Johann Risman als wichtigster Beiträger angenommen werden. Dazu kommen noch namentlich gezeichnete Artikel des kurzzeitigen Mitherausgebers der Zeitung Johann Maritschnig sowie der Schriftleiter Franz Göpfhardt, Johann Reisenhofer und Michael Schuster. Hervorgehoben seien noch die Beriträge des aus Wien ausgewiesenen und nach Graz übersiedelten Schneidergehilfen Eduard König (1858–1928), des Grazer Bandagisten und Orthopäden Friedrich Jurschitzka (1854–1940), des bekannten böhmischen Arbeiterdichters Josef Schiller (1846–1897) und des Schneidergehilfen Johann Začzek (1864–?) in Bruck an der Mur (Steiermark) sowie ein offener Brief des Wiener Rechtsanwalts Friedrich Elbogen (1854–1909).

Das Bemerkenswerteste an der Zeitung »Die Arbeit« ist das für die radicale Arbeiterbewegung hohe theoretische Niveau der Artikel, in denen bereits anarchistische Ansätze zu erkennen sind. »So lange die gegenwärtige Produktionsweise besteht, wird auch das soziale Elend immer mehr um sich greifen. Und wenn man sich in gewissen Kreisen der Hoffnung hingibt, mit sogenannten ›Sozialreformen‹ die Zustände zu beseitigen, so wird es jedoch nicht mehr lange dauern, wo man auch dort zu der Überzeugung wird gelangen müssen, daß alle derartigen, zur Lösung der sozialen Frage bestimmten Reformvorschläge bloße Scheinmittel sind, womit sich höchstens ein unaufgeklärter, niemals aber der sich täglich mehr seiner Rechte und seines Werthes im sozialen Gesellschaftsorganismus bewußte Arbeiter täuschen läßt. […] Die Lage des arbeitenden Volkes gründlich und dauernd zu verbessern ist nur dann möglich, wenn jedem Menschen sein natürliches Recht auf den Ertrag seiner Arbeit gewährt und gesichert wird. Für diese Idee einzustehen ist unsere Pflicht.«3 Dies wollte man keineswegs auf dem Weg politischer Rechte erreichen: »Also eine Radikalkur müßte angewendet werden, – Palliative sind unzureichend!«4 Wie so  eine Radikalkur zu bewerkstelligen wäre, wird – und hier ist bereits ein genuin anarchistischer Zug vorhanden – dem Einzelnen und seiner moralischen Verantwortung überlassen. »Zur Erreichung eines großen und erhabenen Zieles, wie die des Sozialismus sich uns darbietet, bedarf es ebenso großer und unumschränkter Mittel; diese Mittel zu dem für uns heiligen Zwecke, welche in dem Glücke der Wohlfahrt aller Menschen ohne Unterschied sich kund gibt, sind verschieden und ausreichend vorhanden, und alle Mittel sind berechtigt und nützlich, sobald dieselben sich nicht im Widerspruche mit der Moral befinden. Es bleibt jedem Kämpfer unserer großen Sache selbst überlassen, in diesen Dingen nach Gutdünken zu handeln, da Bevölkerung, Race, Charaktereigenschaften, Ortsverhältnisse eine bestimmte Vorschrift nicht zulassen.«5 Schon in der nächsten Nummer treten anrchistische Grundhaltungen noch deutlicher zu Tage. »Wenn wir jedoch die sozialreformatorischen Maßregeln wie staatliche Lohnregulirung, Kranken-, Unfall- und Alters-Versicherung, Normal-Arbeitstag etc. betrachten, so finden wir, daß durch diese ›Reformen‹ bei der bestehenden Produktionsweise kein Jota an der materiellen Lage der Arbeiter geändert wird. Die herrschende Produktionsweise ist die Wurzel aller bestehenden Uebelstände, folglich ist nur, die Abschaffung und Umwandlung dersleben in eine autonom-gemeinwirtschaftliche erforderlich, wenn die Lage des Volkes gründlich und dauerhaft gebessert werden soll. [...] Mögen die sozialreaktionären Herren ihre schönen Phrasen von Sozialredormen weiter deklamiren, uns den denkenden Theil der Arbeiter wird man mit Palliativen nicht irre führen.«6 Und ein Genosse aus Kärnten setzt nach: »Der soziale (gesellschaftliche) Mechanismus klappt nicht mehr. Sein Gang wird immer fehlerhafter. [...] Aus seinem Räderwerk muß ein Rad entfernt werden, welches den geregelten Gang des ganzen Mechanismus hindert; dieses Rad ist: die kapitalistischen Produktionsweise; es muß ersetzt werden durch ein Rad, welches den geregelten Gang verbürgt und dieses neue Rad heißt: autonom-genossenschaftliche Produktionsweise. Die ›autonom-genossenschaftliche Produktionsweise, innerhalb welcher Jeder den Ertrag seiner Arbeit erhält, ermöglicht es Jedem seine Bedürfnisse vollauf zu befriedigen. Die autonom-genossenschaftliche Produktionsweise ist die Krönung des Gebäudes der Kultur und Zivilisation.«7

 

Autor: Reinhard Müller
Version: Mai 2025
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Daten
von
1885
bis
1886
  • 1

    Brief der Radicalen in Graz (Steiermark) an die Genossen in Linz an der Donau (Oberösterreich). Graz, im Juli 1885, in Steiermärkisches Landesarchiv, Graz, Statthalterei-Präsidiale 18 präs. res. / 1885.

  • 2

    Max Nettlau (1865–1944) gibt als Erscheinungszeitraum irrtümlich den 15. Juli 1885 bis 16. April 1886 an; vgl. Max Nettlau: Anarchisten und Syndikalisten. Teil 1: Der französische Syndikalismus bis 1909 – Der Anarchismus in Deutschland und Russland bis 1914 – Die kleineren Bewegungen in Europa und Asien. Vaduz: Topos Verlag 1984 (= Max Nettlau: Geschichte der Anarchie. Herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam. V, 1.), S. 280; richtig allerdings in M[ax] Nettlau: Bibliographie de l’anarchie. Préface d’Élisée Reclus. Bruxelles / Paris: Bibliothèque des «Temps Nouveaux» / P.-V. Stock 1897 (= Bibliothèque des «Temps Nouveaux». 8.), S. 168. Dieser vielfach wiederholte, falsche Erscheinungstermin findet sich zuerst bei August Krčal (1862–1894): Zur Geschichte der Arbeiter-Bewegung Oesterreichs. 1867–1892. Eine kritische Darlegung von August Krčal. Graz: Selbstverlag des Verfassers 1893, S. 28.

  • 3

    J[ohann] R[isman]: Der Arbeitstag, in: Die Arbeit (Marburg), 1. Jg., Nr. 2 (20. August 1885), S. [1–3], hier S. [2–3].

  • 4

    S. L.: Zur Lage, in: Die Arbeit (Graz), 1. Jg., Nr. 8 (23. November 1885), S. [3].

  • 5

    [Anonym]: Ein wichtiges Kapitel, in: Die Arbeit (Graz), 2. Jg., Nr. 1 (9. Jänner 1886), S. [2].

  • 6

    [Anonym: Die sozialreformatorischen Bestrebungen u. die moderne Produktion, in: Die Arbeit (Graz), 2. Jg., Nr. 2 (21. Jänner 1886), S. [1].

  • 7

    P. E.: Der fehlerhafte soziale Mechanismus, in: Die Arbeit (Graz), 2. Jg., Nr. 2 (21. Jänner 1886), S. [1–2], hier S. [2].