Josef Peukert, ein Pionier in Österreich . 1881 bis 1884
»Oesterreich ist jetzt ein sehr gutes Terrain«, erklärte der in Mähren geborene und in Böhmen aufgewachsene Maler- und Anstreichergehilfe Josef Peukert (1855–1910) auf dem internationalen anarchistischen Kongress, der vom 14. bis 20. Juli 1881 in London (England) abgehalten wurde.1 Bereits im Herbst dieses Jahres machte sich Peukert nach Österreich auf. Unter anderem weilte er auch eine Woche in Graz, der Hauptstadt des Kronlandes Steiermark, wo er »herzliche und brüderliche Aufnahme fand. Freilich waren die Grazer Genossen noch keineswegs Anarchisten, aber mit all ihrem Fühlen und Denken auf dem besten Wege es zu werden.«2 Damit trifft Peukert wohl den Nagel auf den Kopf, denn viele Anhänger der österreichischen Arbeiterbewegung befanden sich in den 1880er-Jahren in einem ideologischen Dilemma. 1868 hatten sich österreichische Arbeiter um die Fahne des Lassalleanismus geschart, doch ein Jahrzehnt voller politischer Rückschläge und aufreibender Intrigen unter den Arbeiterführern, vor allem aber auch die zunehmende Verfolgung durch die Behörden führten Anfang der 1880er-Jahre zu einer Spaltung der Arbeiterbewegung in die blauen Gemäßigten und die roten Radicalen. »Die ersteren«, heißt es im anarchistischen Standardwerk zur Frühzeit des Anarchismus in Österreich, »die Gemäßigten, erstrebten also die Umgestaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung auf friedlichem, gesetzlichem Wege, und zwar einzig und allein auf Grund des einmal erlangten, allgemeinen und directen Wahlrechtes, um die ›politische Macht‹ zu erobern. Daneben erstrebten sie gewisse wirtschaftliche und sociale Reformen. Die Letzteren, die Radicalen, vertraten den Standpunkt, dass die Beseitigung der bürgerlichen Gesellschaft und deren Ordnung nur durch die Gewalt möglich sei und zwar dadurch, dass das Volk unausgesetzt durch Wort und Schrift über die Unhaltbarkeit und Ungerechtigkeit der herrschenden Zustände aufgeklärt, mit den Ideen des Socialismus vertraut gemacht und zu revolutionärem Handeln erzogen wird. Der Parlamentarismus wurde als anti-revolutionär und zur Verbesserung der Lage des arbeitenden Volkes ungeeignet erklärt.«3
Vermutlich im Auftrag des Londoner Revolutionskomitees zog Josef Peukert im Herbst 1881 nach Österreich, um hier eine geheime sozialrevolutionäre Organisation aufzubauen und den Vertrieb der Zeitung »Freiheit« (London, ab 1882 New York) für Johann Most (1846–1906 ) zu reorganisieren. Demgemäß plante er seinen Reiseweg: Vorarlberg, Tirol, Küstenland, Krain, Kärnten, Steiermark und schließlich Niederösterreich, wo er am 5. Dezember 1881 in Wien eintraf. Er wurde zwar bereits am 13. Dezember 1881 unter dem Verdacht der Gründung geheimer Gesellschaften sowie der Aufreizung zum Hass und zur Verachtung gegen den Staat ins Wiener Landesgericht eingeliefert und erst am 6. März 1882 ohne Anklageerhebung freigelassen. In seine böhmische Heimat abgeschafft, kehrte er nach zwei Wochen nach Wien zurück. Rasch zu einem Wortführer der Radicalen in Österreich aufgestiegen, nahm er an der am 23. Juli 1882 in einem Wald bei Eggenberg [zu Graz] (Steiermark) abgehaltenen geheimen Vertrauensmännerkonferenz teil. Hier schlug er den steirischen Genossen vor, die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht aufzugeben, da es von der Regierung ohnedies nicht bewilligt werde und weil es obendrein die Arbeiter von ihrem eigentlichen Kampf um soziale Befreiung ablenke. Auch forderte er die geheime Agitation und die Gründung geheimer Clubs. Seine Vorschläge wurden von den Delegierten angenommen, womit der radicale Flügel in der Steiermark die Oberhand gewann. Zurück in Wien, übernahm Peukert auf Aufforderung der Radicalen im Juli 1882 de facto die Redaktion der Zeitung »Die Zukunft« (Wien), damals das führende Organ der Arbeiterbewegung in Österreich. Am 24. August 1882 wurde Peukert zusammen mit vielen anderen Radicalen unter anderem im Zusammenhang mit der so genannten Merstallinger-Affäre verhaftet. Um Geld für die radicale Propaganda zu beschaffen, chloroformierten und braubten zwei Sozialrevolutionäre, die Tischlergehilfen Josef Engel (~1858–?) und Franz Pfleger (1831–1884), am 4. Juli 1882 den Besitzer eines Schuhwarengeschäfts, Josef Merstallinger (~1832–?), in Wien. Des Verbrechens des Hochverrats und des Verbrechens der Mitschuld am Raub angeklagt, wurde Josef Peukert im Prozess, der vom 8. bis 21. März 1883 vor dem Landes- als Schwurgericht Wien stattfand, freigesprochen. Peukert, seit April 1883 Mitherausgeber der Zeitung »Die Zukunft« (Wien), machte jetzt als Wortführer der radicalen Arbeiterbewegung Österreichs zahlreiche Agitationsreisen in die Provinz. Diese dienten wohl dazu, jene geheime Konferenz vorzubereiten, welche vom 3. bis 5. Oktober 1883 in Langenzersdorf (Niederösterreich), Neulerchenfeld (Niederösterreich [zu Wien 16.]) und Wien stattfand. Auf dieser Konferenz diskutierte man unter anderem, sich nach einem Gruppensystem zu organisieren und eine ländermäßige Aufgliederung vorzunehmen. Man wollte künftig auch entschiedene Front gegen alle anderen politischen Parteien machen und alle zu Gebote stehenden Mittel zur Propaganda ergreifen, besonders in Fabriken, wo Arbeiterinnen und Arbeiter schlecht entlohnt werden. Schließlich plante man noch, in jeder Provinz eine geheime Presse zu organisieren, auf der Flugschriften gedruckt werden könnten, die dem Charakter der jeweiligen Provinz entsprächen. Es blieb zwar nur bei Erörterungen, Beschlüsse wurden keine gefasst. Diese letzte große Konferenz der Radicalen lässt nicht nur deutliche anarchistische Ansätze (etwa dezentrale, föderative Organisation) erkennen, es zeigen sich auch deutliche Differenzen unter den Sozialrevolutionären innerhalb der radicalen Arbeiterbewegung. So meinten einige, man solle versuchen, die Revolution mittels einer Art Guerillakrieg auszulösen, während andere für Aktionen Einzelner plädierten.
Zwei Ereignisse sollten Josef Peukert zum Verhängnis werden. Im November 1882 kam ein »Engländer« namens Ernest Stevens nach Wien, um hier den Vertrieb der Zeitung »Freiheit« (New York) zu organisieren. Dieser war niemand anderer als der Anarchist John Neve (1844–1896), ein wichtiger Anhänger von Johann Most. Stevens wurde am 23. Dezember 1882 verhaftet, doch konnte ihm die Wiener Polizei die vermutete Identität mit Neve nicht beweisen. Einer der Zeugen, die ihn auf einem Foto identifizieren sollten, war Josef Peukert, doch gab dieser vor, ihn nicht zu kennen. Stevens wurde daraufhin am 26. Juli 1883 abgeschafft und den deutschen Behörden ausgeliefert, die ihn in Hanau (Hessen-Nassau [Hessen]) in Haft nahmen. Im Dezember 1883 wurde Josef Peukert von Gemäßigten der deutschen Sozialdemokratie heftig angegriffen, was ihn veranlasste, im Jänner 1884 eine Ehrenbeleidigungsklage gegen den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Karl Grillenberger (1848–1897), hinter dem übrigens der in Anarchistenkreisen verkehrende Polizeispitzel Max Trautner (1855–?) stand, anzustreben. Am 26. Jänner 1884 erging an Peukert eine Vorladung zu einer Zeugenaussage im Hochverratsprozess gegen John Neve, am 28. Jänner 1884 wurde er durch das Wiener Polizeipräsidium dazu aufgefordert und in der Nacht vom 28. auf den 29. Jänner 1884 reiste er nach Hanau ab. Im Prozess gegen Ernest Stevens / John Neve am 31. Jänner 1884 verneinte Josef Peukert in der Gegenüberstellung neuerlich, dass Ernest Stevens mit John Neve identisch sei. Neve wurde dann nur wegen der bereits früher begangenen Verbreitung verbotener Druckschriften zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Peukert fuhr nach seiner Zeugenaussage mit dem Zug nach Nürnberg (Bayern), um sich mit seinem Rechtsanwalt über die Klage gegen Karl Grillenberger zu besprechen und an einem Treffen mit Genossinnen und Genossen teilzunehmen. Am 2. Februar 1884 reiste Peukert weiter nach Ried im Innkreis (Oberösterreich). Eigentlich wollte er den im nahen Suben (Oberösterreich) wegen Hochverrats einsitzenden Sozialrevolutionär Johann Richter (1852–?) besuchen, erhielt aber keine Besuchererlaubnis. Schließlich begab sich Peukert nach Linz an der Donau (Oberösterreich), wo er an einem Arbeiterfest teilnahm. Hier erreichte ihn die Nachricht, dass über Wien der Ausnahmezustand, nämlich die Ausnahmsverordnungen vom 30. Jänner 1884, verhängt und viele Genossinnen und Genossen verhaftet worden seien. Nicht zuletzt auf Drängen der Linzer Genossinnen und Genossen flüchtete Josef Peukert noch in der Nacht vom 2. auf den 3. Februar 1884, vom radicalen Hafnergehilfen Anton Fuchs (1847–1899) bis zur Grenze begleitet, zu Fuß über die bayerische Grenze und weiter in die Schweiz, von wo er Ende März 1884 nach London ins Exil ging.
Dass Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten bald danach den Vorwurf erhoben, Josef Peukert sei ein Polizeispitzel und habe in der Sache John Neve der preußischen Polizei in die Hände gearbeitet, mag angesichts der weltanschaulichen Rivalitäten verständlich sein. Nicht nachvollziehbar ist, wenn marxistische Geschichtsschreiberinnen und Geschichtsschreiber der österreichischen Arbeiterbewegung bis in die jüngste Zeit diese Behauptung wiederholten oder Ähnliches zumindest andeuteten. Wie unsinnig und ahnungs- oder auch gewissenlos diese Behauptung ist, belegt ein Brief John Neves vom 20. Juli 1884, in welchem er sich ausdrücklich bei Peukert bedankte, dass er ihn in Hanau nicht verraten habe. Auch die Tatsache, dass Peukert Österreich bereits vor den Massenverhaftungen in Wien verließ, wurde von den eingangs Genannten gegen ihn gedeutet, wobei auch ein polizeilicher Steckbrief als Argument angeführt wird. Tatsächlich gab es diesen Steckbrief des Landesgerichts Wien gegen Peukert. Dieser stand aber nicht mit der Verhängung der Ausnahmnahmsverordnungen vom 30. Jänner 1884 in Zusammenhang, sondern betraf ein Pressevergehen des Redakteurs Josef Peukert. So gesehen, haben die Worte Wiener Anarchisten aus dem Jahr 1926 noch heute volle Gültigkeit: »Wie hat man z. B. in Oesterreich die Persönlichkeit eines Josef Peukert verleumdet und geschändet, tut es noch heute! Dabei wird jeder Unvoreingenommene zugeben müssen: Während seines Aufenthaltes und Wirkens in Oesterreich hat Peukert mit reinstem Idealismus die Ideen des revolutionären Sozialismus verfochten.«4
Josef Peukert war nur sechsundzwanzig Monate in Wien, davon zehn Monate in Untersuchungshaft ohne nachfolgende Verurteilung. Er legte aber, vielleicht etwas überspitzt ausgedrückt, den Grundstein für die erste anarchistische Bewegung in Österreich: die Autonomisten.
Autor: Reinhard Müller
Version: Mai 2025
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Daten
- 1
Zitiert nach den Protokollmanuskripten in Max Nettlau (1865–1944): Anarchisten und Sozialrevolutionäre. Die historische Entwicklung des Anarchismus in den Jahren 1880–1886. Berlin: Gilde freiheitlicher Bücherfreunde [1931] (= Beiträge zur Geschichte des Sozialismus, Syndikalismus, Anarchismus. 5. / Gildenbücher. 6.), S. 204.
- 2
Josef Peukert (1855–1910): Erinnerungen eines Proletariers aus der revolutionären Arbeiterbewegung. Berlin: Verlag des Sozialistischen Bundes 1913, S. 79–80.
- 3
August Krčal (1860–1894): Zur Geschichte der Arbeiter-Bewegung Oesterreichs. 1867–1892. Eine kritische Darlegung von August Krčal. Graz: Selbstverlag des Verfassers 1893 , S. 14–15.
- 4
A[lfons] Bach / J[osef] Burger / R. Christ / F. Drechsler / F. Grosslinger / H[ans] Holub / A[dolf] Lettmaier / F[ranz] Mattl / A. Peschek / F[ranz] Peschek / P[ierre] Ramus [d. i. Rudolf Großmann] / E. Reischer / F. Straus / L[aurenz] Trawnizek [d. i. Laurenz Travniček] / J. Wawra: Wir schreiten fort! Einige Worte an unsere Kameraden und Kameradinnen!, in: Erkenntnis und Befreiung (Wien), 8. Jg., Nr. 1 (3. Jänner 1926), S. 1–2, hier S. 1. Zu den wenigen Erinnerungen an Josef Peukert in Österreich zählen jene seines Mitkämpfers, des Drechslergehilfen Benedikt Stark(~1856–?); vgl. Benedikt Starck [!]: Erlebnisse eines Drechslers, in: Ohne Herrschaft. Monatliches literarisches Beiblatt des »Wohlstand für Alle« (Wien), 4. Jg., Nr. 5 (Mai 1911), S. [3–4], und 4. Jg., Nr. 11 (November 1911), S. [2–3].