Die Unabhängigen Socialisten in der Steiermark und die Zeitung »Die Freiheit« (1894)
Die Unabhängigen Socialisten in der Steiermark
Eine besondere Stellung innerhalb der anarchistischen Bewegung kam Graz (Steiermark) zu. Hier wirkten zwei prägenden Persönlichkeiten der Unabhängigen Socialisten, nämlich der Schneidergehilfe Johann Risman (1864–1936), der dann im November 1892 den Bäckergehilfen August Krčal (1860–1894) nach Graz holte. Unter deren Einfluss wurde am 8. August 1892 der anarchistische Verein »Steiermärkischer Arbeiterbund« gegründet. Dessen Mitglieder schufen dann den mit Erlass der Statthalterei Steiermark vom 8. Juli 1893 genehmigten »Arbeiter-Bildungs- und Unterstützungs-Verein« (seit 7. März 1899 »Arbeiter-Bildungs- und Unterstützungs-Verein in Graz«), der durch sein Bestehen bis 1934 wesentlich zur Kontinuität der anarchistischen Bewegungen in der Steiermark beitrug. Gemeinsam verfassten Risman und Krčal die wohl wichtigste Schrift des Anarchismus, die in Österreich im 19. Jahrhundert erschien: die nur unter dem Namen von August Krčal im Juni 1893 erschienene Broschüre »Zur Geschichte der Arbeiter-Bewegung Oesterreichs. 1867–1892. Eine kritische Darlegung«.1 Risman zeichnete zwar nur das Vorwort, doch die wiederholten Stilbrüche sprechen für die Vermutung der Polizei, dass auch er Mitarbeiter der Broschüre gewesen sei. Diese erste größere anarchistische Publikation in Österreich ist auch geschichtswissenschaftlich von Bedeutung, ist sie doch die einzige historische Darstellung der frühen österreichischen Arbeiterbewegung aus sozialistischer, aber nicht sozialdemokratischer Sicht. Die beim Grazer Buchdruckereibesitzer Ludwig Hauswirth (~1832–1899) – übrigens ein Proponent des »Arbeiter-Bildungs- und Unterstützungs-Vereins« – gedruckte Schrift wurde in ihrer gesamten Auflage von 5.000 Stück beschlagnahmt und vernichtet. Zugleich lieferte die Broschüre den Vorwand für die Verhaftung der Autoren im Juni 1893 und für den Hochverratsprozess gegen Johann Risman, August Krčal und den Schriftsetzer Ferdinand Barth (1862–1913), der am 1. und 2. Dezember 1893 vor dem Oberlandes- als Pressgericht Graz abgehalten wurde.2 Zwar endete der Prozess mit einem Freispruch der Angeklagten, doch danach änderte sich die Lage der steirischen Anarchisten grundlegend. Risman zog sich nun aus der anarchistischen Bewegung zurück, Krčal erlag der während der fünfmonatigen Untersuchungshaft akut gewordenen Tuberkulose am 16. August 1894, und Barth verließ die Steiermark Richtung Wien; vor allem familiäre Gründe dürften Barth schließlich zum Rückzug aus der anarchistischen Bewegung veranlasst haben.
Die Zeitung »Die Freiheit« (1894)
Zwar versuchten die Grazer Anarchisten noch, eine eigene Zeitung herauszugeben: »Die Freiheit. Socialistisches Organ« (Graz), deren erste Nummer am 5. April 1894 erschien.. In der Zeitung »Die Zukunft« (Wien) wurde sie bereits für 29. März 1894 angekündigt, mit der Bemerkung: »Wir empfehlen allen Genossen dieses Blatt auf das wärmste und ersuchen zugleich, für dasselbe nach besten Kräften einzutreten«;3 Mit der zweiten Nummer, die am 6. Mai 1894 in Wien erschien, wurde die Zeitung allerdings behördlich eingestellt: »Vom k. k. Landesgericht Wien ist dem Herausgeber unseres Bruderorgans ›Die Freiheit‹ in Graz bekannt gegeben worden, daß wegen dringenden Verdachtes falscher Angaben bezüglich des Erscheinungsortes das Erscheinen der ›Freiheit‹ als vorläufig eingestellt zu betrachten ist.«4 Verantwortlicher Redakteur war der Handlungsgehilfe Samuel David Friedländer (1865–1942),5 als Herausgeber fungierten der Schriftsetzergehilfe Franz Konitschek und der Bäckergehilfe Josef Schmied (1870–?). Die Betreiber der Zeitschrift verstanden ihr Unternehmen als »Bruderorgan« der Zeitung »Die Zukunft« (Wien), betonten aber auch, »dass an Stelle der mit Nr. 4 des II. Jahrganges eingegangenen ›Allgemeinen Zeitung‹ in Salzburg ›Die Freiheit‹ als Ersatzorgan ins Leben gerufen wurde.«6
Inhaltlicher Mittelpunkt war – wie in der Zeitung »Die Zukunft« (Wien) – die Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie, ohne allerdings neue Kritikpunkte in diese Diskussion einzubringen. Aber man gestand offen die »ernste Situation ein, in welcher sich unsere Partei gegenwärtig in Folge der erbärmlich-kleinlichen Verfolgungen ihrer nur durch materielle Gewalt bedeutenden Gegner, und zum großen Theile durch die falsche Auffassung unserer Ideen und Lehren befindet«.7 Es war vor allem die Gleichsetzung von Anarchismus mit Terrorismus, gegen die man nun, sich der Ohnmacht durchwegs bewusst, anschrieb: »Wir können mit ruhigem Bewusstsein jene infamen Verdächtigungen und Beschuldigungen, mit welchen uns unsere Gegner betreffs der terroristischen Acte überhäufen, von uns abschütteln, denn so wenig wir im Stande sind, die so sehr gefürchtete und von allen ‚Staatsrettern’ mit Angst und Grauen an die Wand gemalte Revolution an den Haaren herbeizuzerren, wenn die Bedingungen zu derselben nicht vorhanden sind, ebensowenig können wir jene Gewaltacte, die stets der Initiative einzelner und den Bewegungen in vielen Fällen fernstehender Personen entsprangen, hervorrufen oder verhüten. […] Unsere Theorien verurtheilen die Anwendung von […] Gewaltmitteln aufs schärfste; ja dieselben stehen geradezu im directen Gegensatze mit unseren Anschauungen, und nur die totale Unkenntnis oder böswillige Verkennung der wahren Sachlage konnte es zustande bringen, uns für etwas verantwortlich zu machen, welches sich außerhalb des Bereiches unserer Agitation ereignete. Das moderne Sykophantenthum scheint vergessen zu haben oder vielmehr absichtlich zu vergessen, dass diese terroristischen Acte nichts anderes sind, und nichts geringeres bedeuten, als die unausbleiblichen Folgen einer falschen, mehr als tausendjährigen Culturentwicklung; einer Culturentwicklung, die nicht nur durch ihre socialpolitischen Theorien, sondern auch durch brutale Facten, durch historische Thatsachen, den Terrorismus als unabänderliches Axiom bei allen Fortschritten und Umwälzungen der gesellschaftlichen Ordnung bestimmt.“8
Der Niedergang der Unabhängigen Socialisten in der Steiermark
Zwar wurde »Die Freiheit« behördlich eingestellt, doch den Unabhängigen Socialisten gelang es im Herbst 1894, die beschlagnahmte Broschüre von August Krčal und Johann Risman in Berlin (Preußen [Berlin]) zu veröffentlichen, und zwar in einer von »X. Y« – das ist der Bäckergehilfe Josef Schmied (1870–?) – bis 1894 fortgesetzten Version.9Dennoch lag die anarchistische Bewegung nunmehr auch in Graz danieder, und die am 12. September 1896 erfolgte behördliche Auflösung des »Steiermärkischen Arbeiterbundes« hatte nur mehr symbolischen Wert. Die alten Kämpfer des Anarchismus verblieben in den Grazer Organisationen »Gewerkschaft der Bäcker«, deren anarchistische Mitglieder sich vor allem in der am 27. November 1892 als Firma gegründeten »Ersten steiermärkischen Arbeiter-Bäckerei, registrierte Genossenschaft mit beschränkter Haftung« in Eggenberg [zu Graz] (Steiermark) betätigten, in der »Steiermärkischen Schneidergewerkschaft« und im »Arbeiter-Bildungs- und Unterstützungs-Verein«. Sie sollten aber erst um die Jahrhundertwende wieder merkbar aktiv werden.
Autor: Reinhard Müller
Version: Juni 2025
Anarchistische Bibliothek | Archiv | Institut für Anarchismusforschung | Wien
Copyleft
- Weiter: Exkurs: Vinzenz Muchitsch (1873–1942) und Ladislaus Gumplowicz (1869–1942), zwei missratene Anarchisten
- Zurück: Franz Egger und die »Allgemeine Zeitung« (1893–1894)
- Zum Inhaltsverzeichnis
Daten
- 1
Vgl. August Krčal (1862–1894): Zur Geschichte der Arbeiter-Bewegung Oesterreichs. 1867–1892. Eine kritische Darlegung von August Krčal. Graz: Selbstverlag des Verfassers 1893, 52 S. Enthält auch Johann Rismann [!]: Vorwort, S. 3–4. Johann Risman (1864–1936) ist ungenannter Ko-Autor dieser Broschüre. Die Druckschrift wurde am 14. Juni 1893 polizeilich vollständig beschlagnahmt und bis auf einige Belegexemplare vernichtet.
- 2
Vgl. [anonym]: An die Genossen!, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 21 (24. Juni 1893), S. 1, [anonym]: Gerichtssaal, in: ebenda, 2. Jg., Nr. 8 (8. Dezember 1893), S. 3, und das im Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien, Kat. Nr. 95–6, befindliche Typoskript: Hochverrath-Prozess gegen Johann Riessmann, Aug. Krcal u. Ferdinand Barth stattgefunden am 1–2 Dezember 1894 beim k. k. Oberlandes- als Pressgericht Graz. Nach dem Stenogramm bearbeitet. Graz [1895], 104 S.
- 3
[Anonym]: Ankündigung, in: Die Zukunft (Wien), 2. Jg., Nr. 14 (23. März 1894), S. 4.
- 4
[Anonym]: Zur Nachricht, in: Die Zukunft (Wien), 2. Jg., Nr. 19 (16. Juni 1894), S. 4. Die Weiterverbreitung der Druckschrift wurde mit Erkenntnis des Landes- als Pressgericht Wien vom 8. Mai 1894 in Österreich verboten.
- 5
Von ihm stammt auch der einzige namentlich gezeichnete Artikel; vgl. S[amuel] D[avid] Friedländer (1865–1942): Parteigenossen!, in: Die Freiheit (Graz), 1. Jg., Nr. 1 (5. April 1894), S. 1; vgl. auch [anonym]: Die Idee der Anarchie. (Aus »Le Révolte« [!] übersetzt von F.), in: ebenda, 1. Jg., Nr. 1 (5. April 1894), S. 3–4; hinter »F.« steckt Samuel David Friedländer.
- 6
[Anonym]: Achtung!, in: Die Freiheit (Graz), 1. Jg., Nr. 1 (5. April 1894), S. 6.
- 7
[Anonym]: Zur Situation, in: Die Freiheit (Graz), 1. Jg., Nr. 1 (5. April 1894), S. 2–3, hier S. 2.
- 8
[Anonym]: Zur Situation, in: Die Freiheit (Graz), 1. Jg., Nr. 1 (5. April 1894), S. 2–3, hier S. 2.
- 9
Vgl. August Krčal (1862–1894): Zur Geschichte der Arbeiter-Bewegung Oesterreichs. 1867–1894. Eine kritische Darlegung von August Krcal nebst Ergänzungen von X. Y. Berlin: [Verlag des »Sozialist«] 1894, 50 S. »X. Y.« ist Josef Schmied (1870–?). Neudruck der Ausgabe Graz 1893, erweitert um ein Porträtfoto Krčals und Der Verleger [d. i. Gustav Landauer (1870–1919)]: An die geehrten Leser!, S. 5; [Josef Schmied]: XV. 1893–1894, S. 45–48; [Josef Schmied]: Anhang, S. 49–50.