Die Freiheitlichen Sozialisten und »Neue Bahnen«. 1895 bis 1914
In den Jahren der Stagnation bildete sich lediglich eine nennenswerte anarchistische Gruppierung heraus, die allerdings nur wenige Mitglieder umfasste und auf Wien beschränkt blieb: die Freiheitlichen Sozialisten um die Zeitung »Neue Bahnen« (Wien).1 Im Bericht der Polizeizentrale über die anarchistische Bewegung im Jahr 1899 heißt es: »Das von Dr. Kadisch gegründete Organ ›Neue Bahnen‹, nähert sich wohl in mancher Beziehung den Anschauungen der ethisch-anarchistischen Richtung und hatte auch mit Berliner Anarchistenblättern Fühlung, es kann jedoch keineswegs als anarchistisches Blatt bezeichnet werden.«2 Dieser Einschätzung liegt ein reduziertes Anarchismus-Verständnis zu Grunde. Seit Mitte der 1890er-Jahre war es auch unter Polizei und Justiz üblich geworden, unter »Anarchismus« – wie es Konservative und Marxisten schon immer taten – nur mehr eine terroristische Variante zu verstehen. Anarchistische Bewegungen, die sich nicht selbst als »anarchistisch« bezeichneten, wurden als solche nicht mehr wahrgenommen. Diese Ausblendung Gewalt ablehnender anarchistischer Strömungen, die sich nicht als »anarchistisch« etikettierten, hielt sich teilweise bis in die Gegenwart. So kam es, dass selbst die Wissenschaft bis heute die Freiheitlichen Sozialisten als anarchistische Bewegung ignorierte. Ehe auf diese Gruppierung näher eingegangen wird, sei noch auf einen Begriff in obigem Zitat kurz eingegangen: Hier wird von einer »ethisch-anarchistischen Richtung« gesprochen. Es war dies ein damals übliches Prädikat – man verwendete auch die Bezeichnungen »idealistische Anarchisten« oder »Edelanarchisten« – für Anhänger anarchistischer Ideen, die jede Form von Gewalt auf dem Weg zur Anarchie ablehnten. Diese auch von den Behörden vielfach belächelten und als »harmlos« eingestuften ethischen Anarchisten waren meist Einzelpersonen oder fanden sich in außerordentlich kleinen Gruppen zusammen und standen im allgemeinen außerhalb der Arbeiterbewegung, wenngleich sich die Propagandisten teilweise ausdrücklich an die Proletarier wandten. Sie strebten eine Besserung der sozialen Verhältnisse durch die Besserung des Einzelnen an und lehnten jede Form von Gewalt und jede Gewalt ausübende Institution ab. Einem typischen Vertreter dieses Anarchismus werden wir später in der Person von Franz Prisching (1864–1919) begegnen. Auf die hier behandelten Freiheitlichen Sozialisten trifft die behördliche Einschätzung jedoch nur zum Teil zu.
Nach dem Scheitern des Freiland-Experiments von Theodor Hertzka (1845–1924) schien die Freiland-Bewegung in Österreich rasch verschwunden zu sein. Tatsächlich sammelten sich aber einige seiner Anhänger, insbesondere jene mit ausgeprägtem sozialistischen Hintergrund, seit 1897 unter der Bezeichnung Freiheitliche Sozialisten in einem Geflecht von vier Vereinen. Inhaltlich fassbar wird diese Gruppe erst, als sie 1899 auf Initiative ihres Wortführers Hermann Kadisch (1862–1934) eine eigene Zeitschrift gründete: »Neue Bahnen. Socialfreiheitliches Organ«. Herausgeber der Vierzehntagesschrift war der »Socialistische Volksverein«, verantwortlicher Redakteur Richard Kollhammer, Mitglied des »Allgemeinen österreichischen Wirtschaftsbunds«. Es erschien lediglich ein Jahrgang mit insgesamt vierzehn Nummern.
Das Organ verstand sich als sozialistisches, und zwar als freiheitlich-sozialistisches Forum gegen die auf dem so genannten Eingungsparteitag in Hainfeld (Niederösterreich), 30. Dezember 1888 bis 1. Jänner 1889, geeinte österreichische Sozialdemokratie, wobei man sich seiner Vorläufer durchaus bewusst war. »Daß aber der orthodoxe Marxismus namentlich in den Grenzen unseres Vaterlandes Opposition braucht – eben weil er orthodox ist – leuchtet ein. Dieser Orthodoxie gelang es allerdings, die frühere Opposition [Rudolf] Hanser–Haimann [recte Adolf Heimann] und später die sogenannten ›unabhängigen Socialisten‹ zu zersprengen und einen Theil wieder ins officiell socialdemokratische Lager hinüberzuziehen, aber andererseits auch eine christlichsociale und deutschnationale Arbeiterschaft zu züchten, die überall ihr Haupt emporreckt. Es wiederholt sich also im Proletariat derselbe Proceß wie im Bürgerthum Oesterreichs, und ebenso wie die liberalen Führer keine demokratische Fraction neben sich duldeten und lieber christlichsocialen und deutschnationalen Reactionären ihre Position räumten, ebenso ziehen die marxistischen Wortführer selbst eine deutschnationale und christlichsociale Arbeiterschaft, deren Existenz sie allerdings leugnen, uns genossenschaftlichen, freiheitlichen Socialisten vor.«3 Das Zitat weist die beiden weltanschaulichen Grundzüge der Zeitung aus: gegen den Marxismus und für einen genossenschaftlichen, freiheitlichen Sozialismus sowie gegen die Sozialdemokratie, die »nicht mit der erforderlichen Kraft gegen den freiheits- und culturmörderischen Nationalitäten- und Racenkampf aufzutreten [weiß], au contraire – sie fügt demselben einen nicht minder verderblichen Classenkampf bei.«4
Diese neue anarchistische Bewegung entwickelte sich kurz nach dem Zerfall der Unabhängigen Socialisten vor dem Hintergrund der sogenannten Badeni-Krise. Der aus Polen stammende österreichische Ministerpräsident Kasimir Felix Graf von Badeni (1846–1909) erließ 1897 die Vorschrift (»Badenische Sprachenverordnung«), wonach alle Staatsbeamten in Böhmen innerhalb von vier Jahren die Beherrschung des Deutschen und des Tschechischen nachzuweisen hätten. Damit wäre auch in den überwiegend deutschsprachigen Gebieten Böhmens die Zweisprachigkeit eingeführt worden. Diese Regelung im Sinne der Tschechen entfachte einen Nationalitätenstreit unter den Deutschen, der schließlich zum Sturz Badenis und seiner Verordnung führte. Die Badeni-Krise bewirkte einen bislang unbekannten Grad der Radikalisierung des Nationalitätenkonflikts im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn, der auch in der anarchistischen Bewegung der späten 1890er-Jahre – allerdings auf Wien beschränkt – seinen Niederschlag fand.
Schon die Unabhängigen Socialisten konstituierten sich mit dem Ziel, eine Partei zu gründen, eine Absicht, von der man sich aber rasch abwandte. Ebenso planten die Freiheitlichen Sozialisten die Gründung einer Partei, einer sogenannten österreichischen Volkspartei, in scharfer Abgrenzung von den bestehenden Parteien: »Im Gegensatze zu den bestehenden Fractionen, welche theilweise die Vorrechte einzelner Nationalitäten, Religionsgenossenschaften und Classen vertreten und auf diese Weise den inneren Frieden systematisch untergraben, muß eine radicale, eine sociale Volkspartei für die unbedingte Gleichberechtigung aller österreichischen Staatsbürger, sowohl in nationaler, als in confessioneller und socialer Hinsicht, eintreten. Nur eine solche Partei, die die Interessen der österreichischen Gesammtbevölkerung vertritt, kann den Anspruch erheben auf den Namen einer österreichischen Volkspartei, und insoferne, als der österreichische Staat nichts anderes ist, als die Vereinigung aller seiner Bürger, kann nur eine solche Partei als eine österreichische mit Fug und Recht bezeichnet werden. Jene Parteien aber, welche, wie z. B. die deutsche und die katholische Volkspartei, die Christlich-Socialen oder Socialdemokraten, entweder den nationalen, den confessionellen oder den Classenhaß schüren, sind keine Volksparteien sondern nationale, confessionelle und Classenparteien.«5 Der Begriff der Partei wurde aber von den Freiheitlichen Sozialisten bald fallen gelassen. Stattdessen organisierten sich die Freiheitlichen Socialisten in vier Vereinen. Im Zentrum standen der der gegründete und bis etwa 1909 aktive »Sozialistische Volksverein« – seit 1907 »Sozial-österreichischer Volksverein« – und der ebenfalls 1895 konstituierte und bis etwa 1901 tätige »Allgemeine österreichische Wirtschaftsbund«. Daneben gab es noch den bereits 1894 von späteren Freiheitlichen Sozialisten übernommenen »Allgemeinen Bildungs- und Discussions-Club«, der zwar bis 1922 aktiv war, allerdings nur in den Jahren um die Jahrhundertwende als anarchistisch einzuschätzen ist. Schließlich gab es noch den von Hermann Kadisch 1897 gegründeten Verein »Jung-Oesterreich« mit seiner Idee »Neu-Oesterreich«. Dieser nahm innerhalb der Freiheitlichen Sozialisten eine Sonderstellung ein und kann auch als Fortsetzung der um 1899 erlahmten Bewegung verstanden werden.
Autor: Reinhard Müller
Version: Dezember 2025
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Daten
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In der Rubrik »Briefkasten der Redaction« der Zeitung »Neue Bahnen« (Wien) werden nur wenige Orte ausgewiesen: in Österreich-Ungarn Budapest, Krakau (Galizien [Kraków, Polen]), Lemberg (Galizien und Lodomerien [Lwiw ‹Львів›, Ukraine]), Lobming [zu Sankt Stefan ob Leoben] (Steiermark), Meran (Tirol, [Merano / Meram, Italien]), Reichenberg (Böhmen [Liberec, Tschechien]) und natürlich Wien, im Ausland Basel / Bâle / Basilea (Kanton Basel-Stadt, Schweiz), London (England), München (Bayern), Paris (Frankreich) und Zürich / Zurich / Zurigo (Kanton Zürich, Schweiz).
- 2
Die socialdemokratische und anarchistische Bewegung im Jahre 1899. Wien: Druck der kaiserlich-königlichen Hof- und Staatsdruckerei 1900, S. 92. Was den Kontakt zu Anarchisten in Berlin (Preußen [Berlin]) betrifft, kann nur jener zu Albert Weidner (1871–1946) nachgewiesen werden; vgl. [Richard Kollhammer]: Briefkasten der Redaction [/] Der Socialist, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 6 (18. Mai 1899), S. 4.
- 3
Arthur Kully: Unser Programm!, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 13 (16. Oktober 1899), S. 1–2, hier S. 1.
- 4
Arthur Kully: Unser Programm!, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 13 (16. Oktober 1899), S. 1–2, hier S. 1.
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[Anonym]: Die Ziele der freiheitlichen Socialisten und ihre Stellung zu den übrigen Parteien. IV., in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 6 (18. Mai 1899), S. 2–3, hier S. 2.