Theodor Hertzka und die Freiland-Bewegung
In der ersten Hälfte der 1890er-Jahre entstand in Österreich eine sozialreformerische Bewegung, die später mindestens in die Nähe des Anarchismus gerückt, bisweilen direkt als anarchistisch bezeichnet wurde: die Freiland-Bewegung. Ihr Begründer und zugleich ihre prägende Persönlichkeit war Theodor Hertzka (1845–1924). Geboren und aufgewachsen in Budapest (Ungarn), studierte er Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten in Wien und Budapest, wo er zum Dr. jur. promoviert wurde. 1872 übersiedelte Theodor Hertzka nach Wien. Hier war er 1872 bis 1879 Mitredakteur der Tageszeitung »Neue Freie Presse« (Wien) und leitete deren naturwissenschaftlichen und volkswirtschaftlichen Teil. Daneben war er theoretisch wie praktisch als Nationalökonom aktiv, wurde im April 1873 in den Aufsichtsrat der »Leopoldstädter Spar- und Vorschussbank« und im Jänner 1874 in den Verwaltungsrat von »›Minerva‹, Lebens-, Renten- und Unfalls-Versicherungs-Bank« gewählt. 1874 war er gemeinsam mit Max Kübeck von Kübau (1835–1913) Proponent der später bedeutenden »Gesellschaft der österreichischen Volkswirthe in Wien«, wo er zunächst als Schriftführer fungierte. Im Jänner 1880 gründete Hertzka die Tageszeitung »Wiener Allgemeine Zeitung« (Wien), als deren Herausgeber und Chefredakteur er bis Juli 1886 tätig war. Danach arbeitete er als freier Schriftsteller und Publizist. Im Dezember 1889 gründete Hertzka das Wochenblatt »Zeitschrift für Staats- und Volkswirthschaft« (Wien), das er bis 1903 herausgab.
Neben seinen rein wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten verfasste Theodor Hertzka sozialreformerische Schriften in der Tradition des so genannten »liberalen Sozialismus«, der sich an den Arbeiten von Henry George (1839–1897) und Edward Bellamy (1850–1898) orientierte. Besonders hervorgehoben seien diesbezüglich Hertzkas Studie »Die Gesetze der sozialen Entwickelung« (Leipzig 1886), der sozialutopische Roman »Freiland« (Wien 1889) – ein Bestseller, der Hertzka auch international bekannt machte –, die populäre, im Reclam-Verlag erschienene Broschüre »Eine Reise nach Freiland« (Leipzig [1893]) und der sozialpolitische Roman »Entrückt in die Zukunft« (Berlin 1895). Diese Publikationen bildeten gleichsam die Grundlagen der von Theodor Hertzka initiierten und propagierten Freiland-Bewegung. Dabei bemühte sich Hertzka um eine klare Abgrenzung zu anderen Reformbewegungen und um eine eindeutige Abgrenzung gegenüber marxistischen Ideen. Sprachrohr der Freiland-Bewegung war die zweimal monatlich erschienene Zeitung »Freiland« (Wien), die vom 4. Juli 1891 bis 20. November 1894 veröffentlicht wurde. Herausgeber und Autor fast aller Artikel war Theodor Hertzka, verantwortlicher Redakteur Heinrich Herrnfeld (1837–1917). Organisatorisches Zentrum war der am 12. November 1891 konstituierte »Wiener Freiland-Verein«, der sein Vereinslokal im Gasthaus »zur goldenen Birne« (Paul Hopfner) in Wien 7., Mariahilfer Straße 30, hatte.
Die Jahre 1892 bis 1894 war Theodor Hertzka vor allem mit der Organisierung einer Freiland-Expedition nach Ostafrika beschäftigt, welche allerdings im Juni 1894 scheiterte. Zugleich waren dies die Jahre seines größten Bekanntheitsgrades. Bezeichnenderweise bot seit März 1894 die Fabrik von Karl Lechner in Wien 5., Kettenbrückengasse 7, Gipsbüsten des Freilandführers Theodor Hertzka an.1
Nach dem scheitern der Freiland-Expedition 1894 zog sich Theodor Hertzka von der Freiland-Bewegung zurück und lebte als Journalist und freier Schriftsteller. 1899 kehrte er in seine Geburtsstadt Budapest zurück. Hier hatte er schon 1895 die Zeitung »Friss Ujság« (Budapest; Neue Zeitung) gegründet, als deren Herausgeber er fungierte und deren Leitung dann sein Sohn Lothar Hertzka (1874–1936) übernahm. Außerdem war er vom Juni 1901 bis September 1906 Chefredakteur der Zeitung »Magyar Hírlap« (Budapest; Ungarische Tageszeitung). Daneben wirkte er 1902 bis 1903 als Berater des ungarischen Ministerpräsidenten Kálmán Széll (1843–1915). Zuletzt arbeitete Hertzka als Beamter des Eisenbahnministeriums in Budapest. 1918 zog Theodor Hertzka zu seiner Tochter Betti Lebrecht (1875–1938) und deren Ehemann, den Rechtsanwalt und Justizrat Hugo Lebrecht (1866–1943), nach Wiesbaden (Hessen), wo Theodor Hertzka am 22. Oktober 1924 starb.
Autor: Reinhard Müller
Version: Juli 2025
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