Zum weltanschaulichen Profil der Freiheitlichen Sozialisten

Wie für alle anarchistischen Strömungen Österreichs war in diesen Jahren auch für die Freiheitlichen Sozialisten zunächst einmal die Auseinandersetzung mit der österreichischen Sozialdemokratie kennzeichnend. Hauptvorwurf war jener der Orthodoxie. Hermann Kadisch (1862–1934), quasi der Cheftheoretiker der Freiheitlichen Sozialisten, betonte, »daß socialistische Theorien und Programme nicht starr dogmatisch, sondern der Entwicklung unterworfen sind. Das sei», wird Kadisch zitiert, »der Gegensatz zu den Marxisten. Der Marxismus kann nicht als das letzte Stadium des Socialismus aufgefaßt werden.« Und er meinte optimistisch: »Auch der Marxismus ist überwunden, unmodern, er wird es auch für die Oeffentlichkeit bald sein – abgelöst von den [!] freiheitlichen Socialismus. Da aber die Socialdemokratie in Oesterreich die einzige organisirte demokratische Partei ist, sympathisiren alle Unzufriedenen mit ihr. Auch Demokraten oder nicht marxistische Socialisten werden für Socialdemokraten erklärt.«1 Die Orthodoxie zeitige einen weiteren Verrat an sozialistischen Prinzipien: die Intoleranz. »Der autoritäre Communismus, der diesen Namen, der ihm gebührt, nicht gerne hört und sich lieber Marxismus nennt, gibt fälschlich vor, unsere freie Auffassung des Socialismus zu acceptiren; denn auch für den Marxismus ist der Socialismus das Postulat der öconomischen Freiheit und Gleichberechtigung. Allein Eines duldet er nicht in seiner Mitte, nämlich: eine andere Meinung als die des Generalissimus seiner Organisation. Diese Intoleranz der socialdemokratischen Organisation macht das Freiheits- und Gleichheits-Princip des Socialismus zu einer Illusion und das Programm der Socialdemokratie zu einer Lüge.«2 Neben der Orthodoxie und Intoleranz des Marxismus warf man der Sozialdemokratie vor allem die Sünde der Unterlassung vor. »Wenn die Socialdemokratie das ›Ende des nationalen Wahnsinns‹ abwarten zu können glaubt, so wird sie sich eben so gründlich irren, wie sie seinerzeit den ›antisemitischen Unsinn‹ belächeln zu können glaubte – jenen ›Unsinn‹, dem selbst in der organisirten Arbeiterschaft die ›jüdischen Führer‹ zum Theile bereits Rechnung tragen mußten und vielleicht auch in Zukunft noch mehr werden tragen müssen.«3

Die Freiheitlichen Sozialisten legten auf beide Begriffe ihrer Selbstbezeichnung Wert, was sich zumindest teilweise in dem Hinweis auf ihre Ahnherrn zeigt: »Proudhon, Dühring, Hertzka und die gesammte moderne Schule des genossenschaftlichen Socialismus.«4 Unter der »modernen Schule« sind vor allem die Lehren des deutschen Genossenschaftlers und Soziologen Franz Oppenheimer (1864–1943) zu verstehen. Dieser wurde auch vom »Sozialistischen Volksverein« der Freiheitlichen Sozialisten zu einem Vortrag nach Wien eingeladen, wo er am 13. September 1899 über »Die soziale Frage« referierte und sich schon eingangs »als einen Schüler des genialen National-Oeconomen Th. Hertzka« bekannte.5 Für den Sozialismus stand die Genossenschaftsidee in der Tradition von Theodor Hertzka (1845–1924), für das Freiheitliche die Anarchie im Sinn von Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865).

»Der Vogel, der seiner Freiheit beraubt, lange Zeit hindurch im Käfige ein verkümmertes Dasein zu verbringen verurtheilt ist, verlernt den Gebrauch der Flügel – auch dann wenn er freigelassen wird ist er nicht im Stande, von ihnen mit Erfolg Gebrauch zu machen, vielweniger aber noch der im Käfig gezüchtete, der seine Kräfte nie erprobt, der die Freiheit der Bewegungen nie aus eigener Erfahrung kennen gelernt hat. […] Wahrlich, nicht viel besser steht es mit den Arbeitern. Wohl hat die Sozialdemokratie einen großen Theil der bei harter Arbeit und Entbehrungen aller Art in dumpfen Käfigen gezüchteten Arbeiterschaft aus den Schlaf gerüttelt, und dafür gebührt ihr auch rückhaltslos die vollste Anerkennung und der Dank aller Menschenfreunde. Aber der größte Theil der sozialdemokratischen Bemühungen und Erfolge konnte bisher und kann in absehbarer Zeit zu keinem anderen Resultate führen, als die Lage der Arbeiter nach Möglichkeit zu verbessern, d. h. soweit dies der Arbeitgeber zuläßt, oder soweit er sich diese Verbesserung abringen lassen muß. Doch nach wie vor bleibt das Verhältniß des Arbeitnehmers zum Arbeitgeber das gleiche und jeder Moment kann den schwer errungenen Vortheil wieder umstoßen.«6 »Mögen die Löhne noch so sehr erhöht werden, so lange die Arbeiter Lohnarbeiter sind, wird die Ausbeutung und Sklaverei kein Ende haben«.7 Deshalb betonten die Freiheitlichen Sozialisten besonders das Selbstbestimmungsrecht des Menschen. »Wir wollen, daß es licht werde in den Köpfen der arbeitenden Classen, wir wollen, daß sie es einsehen lernen, es müsse nicht immer ein ›Herr‹ da sein, der seine Peitsche über sie schwingt, der ihnen befiehlt, wie gut oder wie schlecht sie zu arbeiten haben und der ihnen schließlich für ihre geleistete Arbeit so viel, oder besser, so wenig bietet als es ihm eben beliebt.«8 Die Lösung wurde in einer genossenschaftlichen Organisation gesehen, bei der »jedem bei einem Unternehmen directe betheiligten Arbeiter der ungeschmälerte Ertrag seiner Arbeit auch zufallen muß. […] Nach diesem Grundsatze muß daher bei unseren Unternehmungen eine Categorie von Arbeitern gänzlich verschwinden – wir meinen die Taglöhner. – Einen Taglöhner in bestehendem Sinne kann es selbstverständlich dort unmöglich geben, wo jeder Arbeitende den ganzen auf ihn entfallenden Betrag seiner Leistung auch wirklich erhalten soll.«9 Im Gegensatz zu anderen genossenschaftlichen Modellen sollte also der gesamte erwirtschaftete Ertrag den Genossenschaftsmitgliedern zukommen. Es sollte demnach zu keinen Kapitalrücklagen auf Ebene der genossenschaftlichen Institution zwecks Kapitalbildung geben. Kapitalrücklagen mehrerer Genossenschaftsteilnehmer seien nur dann akzeptiert, wenn sie dem Erwerb notwendiger Produktionsmittel dienten, und dann nur dem Erwerb solcher Produktionsmittel, die von den Genossenschaftsmitgliedern auch selbst und nur von ihnen benutzt würden.

Im Zentrum der Bestrebungen Freiheitlicher Sozialisten stand die wirtschaftliche Autonomie der Arbeiter, denn »nur wirthschaftlich Abhängigen gegenüber können die gegenwärthigen Machthaber und verschiedenen Parteiführer ihren Willen aufzwingen.«10 Erst »dann werden die Arbeiter frei sein, wenn sie den Ertrag ihrer Arbeit in erster Linie zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse verwenden. Zu diesem Zwecke bedürfen die Arbeiter des Grundes und Bodens, der Maschinen, kurz aller Productionsmittel.«11 Beachtenswert ist, dass hier im Kampf um eine anarchistische Gesellschaft ausschließlich auf die genossenschaftliche Organisation gesetzt wurde. Angesichts des damals in Europa entstehenden Anarchosyndikalismus ist die Haltung der Freiheitlichen Sozialisten zum Streik auch innerhalb der anarchistischen Szene Österreichs eine Minderheitenposition. »Ein Streik – so sagt man – hat einen agitatorischen Werth, ob er nun gewonnen oder verloren werde. Des ist vollkommen richtig. Ein Streik kann den Arbeiter über seine traurige Lage belehren, und für seine Befreiung Propaganda machen. Nur frägt es sich nun, ob ein Streik nicht ein zu theures Mittel ist, um diese Zwecke zu erreichen. Und hier muß jeder Unbefangene zugeben, daß die Vorurtheile der Arbeiter auch ohne Streik zerstört werden können, daß die Freiheit auch ohne Streik propagirt werden kann. Wahrhaftig, das Elend und die Tyrannei, denen die Arbeiter ausgesetzt sind, sind groß und grell genug, um die Arbeiter ihre schauerliche Lage erkennen zu lassen.«12 Und an anderer Stelle heißt es: »Mit vereinten Kräften und bei ruhiger, zielbewußter Entwicklung der Sachlage lassen sich ganz zweifellos auf genossenschaftlicher Basis günstigere Erfolge erzielen, als es die andauernden Strikes, oder gar die weitestgehenden Aussperrungen zu erreichen vermöchten. Unser Bestreben bleibt darum nur dahin gerichtet, möglichst bald Arbeitergenossenschaften zu errichten, deren Grundprincip aber unabänderlich dahin zu lauten haben wird: ›Jedem Arbeitenden der ganze und ungeschmälerte Ertrag seiner Arbeit.‹ Selbstverständlich beanspruchen unsere Organisationen umso größere Opfer materieller Natur, als wir uns ja bei unseren Associationen vom Capitalisten ganz unabhängig machen müssen, wenn wir den Ertrag unserer Arbeit ausschließlich unter die Mitglieder vertheilen und nicht, wie bisher, an den Arbeitgeber als Unternehmergewinn überlassen wollen. Gelingt uns das auch nur in bescheidenem Maße, dann ist der Weg klar vorgezeichnet, auf dem weiterzuschreiten sein wird.«13

Gewisse Irritationen mag die von den Freiheitlichen Sozialisten scheinbar unterstützte Forderung der Sozialdemokraten nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht auslösen. Hier gilt es jedoch genauer hinzusehen, denn tatsächlich ging es ihnen um ein direktdemokratisches Wahlrecht. »Wir kämpfen nicht gegen das allgemeine, gleiche und directe Wahlrecht für Reich, Land und Gemeinde ohne Unterschied des Geschlechts u. s. w., im Gegentheile! Nur sind wir als Kämpfer für dieses Wahlrechtsprincip hierin etwas demokratischer, indem wir solches Wahlrecht für alle öffentlichen Aemter Oesterreichs verlangen, wie solches theilweise auch schon in der Schweiz vorhanden ist.«14 Dennoch, die Wahlrechtsfrage war für die Freiheitlichen Sozialisten nur ein Nebenkampfplatz, glaubten sie doch nicht wie die Sozialdemokraten daran, »daß auf parlamentarischem Wege sich eine öconomische Neugestaltung durchführen ließe; wichtiger und zweckmäßiger erscheint der wirthschaftlich-praktische Weg. Die politische Organisation ist die Organisation des Kampfes, die wirthschaftliche Organisation die der Eroberung und des Sieges. Die politische Organisation führt uns ins Parlament; die wirthschaftliche Organisation aber zur Lösung der socialen Frage.«15 Damit verfochten die Freiheitlichen Sozialisten eine Kernforderung aller anarchistischen Bewegungen.16 Entsprechend ihrer Ablehnung des politischen Kampfes verhielten sich die Freiheitlichen Sozialisten auch zum Parlamentarismus. »Wie soll von Abgeordneten die Herstellung des nationalen Friedens, politische Freiheit und wirthschaftliche Reformen erwartet werden, welche vom nationalen und Racenhaß leben, denen die politische Freiheit ihrem Ende gleichkäme und wirthschaftliche Reformen eine Verminderung der von ihnen gestützten capitalistischen Ausbeutung bedeuten würde.«17 »Das Parlament«, meinte Hermann Kadisch, »in seiner heutigen Jammergestalt ist keineswegs – wie die ›Arbeiter-Zeitung‹ neuestens behauptet – identisch mit Oesterreich – ebensowenig wie Gemeinderath und Landtage. – Sie sind ja alle insgesammt gleich unfähig zu jeder fruchtbringenden Arbeit und durch die unerhörte Wahlreform, welche die derzeitigen Machtmißbraucher in Gemeinderath und Landstube der Bevölkerung aufgezwungen haben, zu einem Nationalkonvent schwärzester Färbung entartet. Oesterreich bedarf vielmehr einer neuen Verfassung, welche nicht nur das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht mit Minoritäts-Vertretung enthält, sondern auch an die Stelle des Dualismus den zentralistischen Föderalismus setzt und all die Ausgleichsstreitigkeiten und nationalen Wirren dies- und jenseits der Leitha dadurch beendet, daß sie ein Neu-Oesterreich, eine Union freier, auf Grundlage nationaler Autonomie geeinigter Völker schafft.«18 Auf diese Sonderströmung innerhalb der Freiheitlichen Sozialisten sei hier auf die Bewegung Neu-Oesterreich hingewiesen.


Autor: Reinhard Müller
Version: November 2025
Anarchistische Bibliothek | Archiv | Institut für Anarchismusforschung | Wien
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Daten
von
1895
bis
1914
  • 1

    Hermann Kadisch (1862–1934), zitiert in [anonym]: Socialistischer Volksverein, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 6 (18. Mai 1899), S. 4.

  • 2

    §: An alle aufrichtigen Socialisten. (Ein Mahnruf an den socialdemokratischen Parteitag in Brünn.), in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 10 (31. August 1899), S. 2–3, hier S. 2. Der Vorwurf der Lüge wurde nicht nur gegen die Sozialdemokratie als Partei erhoben, sondern auch gegen ihre Gewerkschaften: »Wären die Gewerkschaften wirklich von Vernunft und Solidarität erfüllt, so würde diese autoritäre, statutliche Organisation rasch durch die freiwilligen Actionen der Einzelnen ersetzt werden.« L. A. Die Gewerkschaften und ihre sociale Aufgabe. (Schluß.), in: ebenda, 1. Jg., Nr. 14 (31. Oktober 1899), S. 3.

  • 3

    [Anonym]: Die Ziele der freiheitlichen Socialisten und ihre Stellung zu den übrigen Parteien. IV., in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 6 (18. Mai 1899), S. 2–3, hier S. 2.

  • 4

    §: An alle aufrichtigen Socialisten. (Ein Mahnruf an den socialdemokratischen Parteitag in Brünn.), in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 10 (31. August 1899), S. 2–3, hier S. 3. Bemerkenswert ist, dass eine für die Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der Juden agierende Gruppe wie die Freiheitlichen Sozialisten den exponierten Antisemiten und Vordenker des späteren Nationalsozialismus Eugen Dühring (1833–1921) zu ihren Ahnherrn zählte.

  • 5

    Vgl. die referierende Wiedergabe des Vortrags von Franz Oppenheimer (1864–1943): Dr. Franz Oppenheimer in Wien, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 11 (21. September 1899), S. 3–4, hier S. 3.

  • 6

    E. P.: Zur wirthschaftlichen Organisation, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 9 (8. August 1899), S. 2–3.

  • 7

    [L. A.]: Die Gewerkschaften und ihre sociale Aufgabe, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 13 (16. Oktober 1899), S. 3–4, hier S. 3.

  • 8

    E. P.: Zur wirthschaftlichen Organisation, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 9 (8. August 1899), S. 2–3, hier S. 3.

  • 9

    E. P.: Zur wirthschaftlichen Organisation, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 9 (8. August 1899), S. 2–3, hier S. 3.

  • 10

    Der Allgem. österr. Wirthschaftsbund: Aufruf des Allg. österr. Wirthschaftsbundes an das arbeitende Volk, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 12 (30. September 1899), S. 3–4, hier S. 4.

  • 11

    [L. A.]: Die Gewerkschaften und ihre sociale Aufgabe, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 13 (16. Oktober 1899), S. 3–4, hier S. 3.

  • 12

    L. A.: Die Gewerkschaften und ihre sociale Aufgabe. (Schluß.), in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 14 (31. Oktober 1899), S. 3.

  • 13

    K. [d. i. Richard Kollhammer]: Sociale Fragmente, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 10 (31. August 1899), S. 1–2, hier S. 2.

  • 14

    §: An alle aufrichtigen Socialisten. (Ein Mahnruf an den socialdemokratischen Parteitag in Brünn.), in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 10 (31. August 1899), S. 2–3, hier S. 3.

  • 15

    §: An alle aufrichtigen Socialisten. (Ein Mahnruf an den socialdemokratischen Parteitag in Brünn.), in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 10 (31. August 1899), S. 2–3, hier S. 3.

  • 16

    Die unmittelbare Nähe zu anarchistischen Bewegungen belegt auch der Abdruck des Aufrufs zur Abhaltung eines internationalen anarchistischen Kongresses in Paris (Frankreich) 1900; vgl. [anonym]: Internationaler antiparlamentarischer Kongreß in Paris 1900, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 9 (8. August 1899), S. 3. Dieser für die Zeit der Pariser Weltausstellung geplante Kongress wurde von der französischen Regierung verboten.

  • 17

    H. K. [d. i. Hermann Kadisch (1862–1934)]: Glossen, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 13 (16. Oktober 1899), S. 4.

  • 18

    H. K. [d. i. Hermann Kadisch (1862–1934)]: Glossen, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 7 (9. Juni 1899), S. 4.