Organisationen der Freiheitlichen Sozialisten

Im organisatorischen Brennpunkt der Freiheitlichen Sozialisten standen zwei Vereine: der »Sozialistische Volksverein« und der »Allgemeine österreichische Wirtschaftsbund«. Der 1895 gegründete »Sozialistische Volksverein« – seit 1901 »Sozial-österreichischer Volksverein« – verstand sich als sozial-freiheitliche und sozial-wirtschaftliche Vereinigung mit Wirkungsbereich Niederösterreich (damals einschließlich Wiens). Obmänner waren von 1895 bis 1898 der Tischlergehilfe Karl Haberreiter (1864–1919), der auch als einschlägiger Publizist hervortrat, von 1898 bis 1899 der Bankbeamte Moriz von Koerber (1845–1902), von 1899 bis 1900 wieder Karl Haberreiter, von 1900 bis 1902 der Advokat Felix von Mikocki (1847–1921) und seit 1902 der Schablonenhersteller Karl Hauschild. Als Obmann-Stellvertreter fungierten von 1895 bis 1896 der Vergolder Karl Bachheimer (~1861–1924) sowie der Bronzearbeiter und Ziseleur Karl Bonupf (1861–1896), seit 1896 – bis zur Auflösung – der Journalist und Zionist Hermann Kadisch (1862–1934). Spätestens 1909 stellte der Verein seine Tätigkeiten ein. Die Programmatik war für eine anarchistische Organisation bemerkenswert konkret: »Der [›]Sozialistische Volksverein‹ strebt derzeit im Rahmen des österreichischen Gesammstaates die unbedingte Gleichberechtigung aller österreichischen Staatsbürger in nationaler (auf Grundlage der nationalen Autonomie), konfessioneller und sozialer Hinsicht an. [/] Er bekämpft daher in schärfster Weise den nationalen Chauvinismus, wie den Antisemitismus, den Klerikalismus und Kapitalismus. [/] Er tritt ein für die weitgehendste Freiheit des Individuums und bekämpft all jene Kliquen, welche die Unterjochung des Individuums, sei es durch einen allmächtigen Staat, sei es durch eine omnipotente Kirche, sei es durch einen Staatssozialismus, herbeiführen wollen. [/] Der ›Sozialistische Volksverein‹ fordert auf nationalem, konfessionellem und ökonomischen Gebiete die Wahrung der Individualität und die Abänderung aller Einrichtungen in Staat und Gesellschaft, welche die Freiheit der Entwicklung derselben hemmen. [/] Der ›Sozialistische Volksverein‹ fordert daher: [/] die Freiheit in Wort und Schrift, [/] die Umgestaltung aller unserer Vertretungskörper (Gemeinderath, Landtag und Reichsrath), durch [/] Allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht, Proportionalsystem – ergänzt durch Volksabstimmung in wichtigen Fällen, so daß dieselben in gleichem Maße den Ausdruck der Majorität und der Minorität bilden, [/] eine den modernen Ansprüchen entsprechende, von jedem kirchlichen Einfluß freie Schule, die in erster Linie an der ethischen Bildung der Jugend arbeitet, [/] als Hauptstütze der heutigen kapitalistischen Ordnung bekämpft der ›Sozialistische Volksverein‹ auch den Militarismus und erblickt in der Förderung der Friedensbestrebungen eine Garantie zur Beseitigung derselben.«1 Die betont Frieden fördernde Ausrichtung der Freiheitlichen Sozialisten entsprach auch ihrem grundsätzlichen Willen, die angestrebte Gesellschaft nicht durch eine Revolution herbeizuführen, sondern auf dem Weg reformerischer Erziehung. »Unser taktischer Grundsatz ist es ja, an das Gegebene aufbauend anzuknüpfen und die wo immer aufstrebenden socialen Reformen in eine unseren hohen Zielen entsprechende Richtung zu lenken.«2

Der »Sozialistische Volksverein« war gleichsam der sozialpolitische Arm der Freiheitlichen Sozialisten, während der 1895 gegründete »Allgemeine österreichische Wirtschaftsbund«3 als Hauptinstrument zur Erreichung ihres Ziels betrachtet wurde. Präsidenten waren von 1895 bis 1896 der Sattler bei den österreichischen Staatsbahnen Anton Beberič, übrigens Proponent des Vereins, von 1896 bis 1898 Heinrich Langer und seit 1898 der Tischlergehilfe Richard Kollhammer, stellvertretende Präsidenten von 1895 bis 1896 Em. Koller und Richard Kollhammer, von 1896 bis 1898 Josef Bohins. Der Verein stellte spätestens 1901 seine Tätigkeiten ein. In seinem Programm betonte der Verein, dass »die bevorstehende wirtschaftliche Umgestaltung nur durch eine wirtschaftliche Organisation aller physisch und geistig Arbeitenden durchgeführt werden könne«.4 »Dies bezweckt«, schrieben die Freiheitlichen Sozialisten des »Sozialistischen Volksvereins«, »der unser wirtschaftliches Programm vertretende Allgemeine österreichische Wirtschaftsbund‹, der statutenmäßig über ganz Zisleithanien [!] sich ausdehnt. [...] Der Allgemeine österreichische Wirtschaftsbund‹ strebt als Endziel an: Eine sozialistische Wirtschaftsordnung, in welcher jeder Arbeitende in freien Assoziationen jederzeit arbeiten und die Früchte seines Fleißes (seinen vollen Arbeitsertrag) genießen kann, durch Beseitigung des Lohnsystems und durch allgemeine Zugänglichmachung der Produktionsmittel. Derzeit sollen mit aller Energie angestrebt werden: Steuerung des Lebensmittel- und Wohnungswuchers (durch Förderung von Produktiv-, Konsumtions- und Heimstätten-Genossenschaften), [/] Steuerreform im Sinne der Beseitigung aller indirekten Steuern und Einführung einer einzigen progressiven Einkommensteuer, [/] Reform der Gewerkschaften und gewerblichen Genossenschaften, [/] Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Invalidität (Altersversorgung), [/] Verkürzung der Arbeitszeit (entsprechend den jeweiligen Forderungen der Hygiene und Technik), [/] Minimal-Arbeitslohn.«5 Bemerkenswert an diesem Programm des »Allgemeinen österreichischen Wirtschaftsbunds« ist die Trennung in Forderungen zum angestrebten Endziel und »derzeitige« Forderungen. Hier wird erstmals in einer anarchistischen Bewegung in Österreich ausdrücklich die phasenweise Annäherung an das Endziel propagiert. Die für anarchistische Bewegungen des 19. Jahrhunderts charakteristische Vorstellung der unmittelbaren Verwirklichbarkeit der Anarchie wurde aufgegeben, der Programmatik der beabsichtigten anarchistischen Gesellschaftsordnung ein Übergangsprogramm zur Seite gestellt.

Dies hing wohl auch mit der Vorstellung zusammen, dass die »Vertreter der Moderne, Vorkämpfer einer neuen, besseren Zeit (Ethiker, Friedensfreunde, Freidenker etc.)« erst herangebildet, erzogen werden müssten.6 Deshalb wurde auch einer Schulreform besonderes Interesse entgegengebracht, erkannten sie doch »in der Schule das Mittel für die Heranbildung des Volkes zum social-freiheitlichen Culturleben«.7 »Wir fordern daher von der Schule – mit anderen Worten – die Erziehung zur sittlichen Freiheit des Individuums, u. zw. sittlich im Sinne der socialen Ethik. Zur Freiheit kann man nur durch Freiheit erziehen; deshalb verlangen wir in der Schule eine Methode, welche der Selbstthätigkeit und Selbstbestimmung des Zöglings einen möglichst großen Spielraum läßt. Dieser oberste Grundsatz aber setzt voraus die Erziehung zur Arbeit (durch die Arbeit), weil nur der zur Arbeit Befähigte an dem Culturleben theilnehmen kann, – sowie zur wirthschaftlichen und politischen Freiheit, weil nur ein Freier, nie aber ein Sclave, sittlich frei, d. h. nach sittlichen Grundsätzen handeln kann.«8

Dem Zweck sozial-freiheitlicher Bildung dienten zwei weitere Vereine. Von den Freiheitlichen Sozialisten wurde 1894 der »Allgemeine Bildungs- und Discussions-Club« mit Wirkungskreis Cisleithanien übernommen, der die »Förderung der allgemeinen, mit besonderer Berücksichtigung der sozial-wissenschaftlichen Bildung« bezweckte. Obmänner waren von 1894 bis 1895 Hugo Sauermann (1855–?), von 1895 bis 1896 der Tischlergehilfe Karl Haberreiter (1864–1919), von 1896 bis 1898 der Privatbeamte Alexander Nitsche, von 1898 bis 1904 der Schablonenhersteller Karl Hauschild, von 1904 bis 1908 der Kaufmann und Getreidehändler Friedrich Glatz (1875–1934), von 1908 bis 1912 der Privatbeamte und Zionist Bernhard Tag (1863–1937), von 1912 bis 1918 Dr. Karl Jeller und seit 1918 wieder Bernhard Tag. Als Obmann-Stellvertreter fungierte 1896 bis zum Ersten Weltkrieg der Journalist und Zionist Hermann Kadisch (1862–1934). Der Verein stellte spätestens 1922 seine Tätigkeiten ein, ist aber nur in den Jahren um die Jahrhundertwende als anarchistisch einzuschätzen. Interessanter ist jedoch der andere Verein, dessen Initiator und Obmann-Stellvertreter der in fast allen genannten Vereinen der Freiheitlichen Sozialisten als Ausschussmitglied tätige Hermann Kadisch war: »Jung-Oesterreich« mit dem von ihm propagierten Neu-Oesterreich.


Autor: Reinhard Müller
Version: Dezember 2025
Anarchistische Bibliothek | Archiv | Institut für Anarchismusforschung | Wien
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Daten
von
1895
bis
1914
  • 1

    Der Ausschuß des Sozialistischen Volksvereines: Die Ziele der freiheitlichen Sozialisten und ihre Stellung zu den übrigen Parteien. V. (Schluß.), in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 7 (9. Juni 1899), S. 2–3, hier S. 3. Eine ähnliche Programmatik des »Sozialistischen Volksvereins« und des »Allgemeinen österreichischen Wirtschaftsbunds« findet sich bei Arthur Kully: Unser Programm!, in: ebenda, 1. Jg., Nr. 13 (16. Oktober 1899), S. 1–2, besonders S. 2.

  • 2

    J. F.: Zur Schulreform, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 13 (16. Oktober 1899), S. 2–3, hier S. 3.

  • 3

    Bemerkenswerter Weise wird in der Zeitung »Neue Bahnen« von der »constituierenden Generalversammlung« am 8. Oktober 1899 gesprochen; vgl. Der allgem. österr. Wirthschaftsbund: Aufruf des Allg. österr. Wirthschaftsbundes an das arbeitende Volk, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 12 (30. September 1899), S. 3–4, hier S. 4.

  • 4

    Arthur Kully: Unser Programm!, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 13 (16. Oktober 1899), S. 1–2, hier S. 2.

  • 5

    Der Ausschuß des Sozialistischen Volksvereines: Die Ziele der freiheitlichen Sozialisten und ihre Stellung zu den übrigen Parteien. V. (Schluß.), in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 7 (9. Juni 1899), S. 2–3, hier S. 3.

  • 6

    Vgl. Der Ausschuß des Sozialistischen Volksvereines: Die Ziele der freiheitlichen Sozialisten und ihre Stellung zu den übrigen Parteien. V. (Schluß.), in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 7 (9. Juni 1899), S. 2–3, hier S. 3.

  • 7

    J. F.: Zur Schulreform, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 13 (16. Oktober 1899), S. 2–3, hier S. 2.

  • 8

    J. F.: Zur Schulreform, in: Neue Bahnen (Wien), 1. Jg., Nr. 13 (16. Oktober 1899), S. 2–3, hier S. 2.