Johann Richter (1852–)
Persönliche Daten
Familienverhältnisse
Ehe: mit Leopoldine [?]: Weberin, Hausfrau; Mitglied des Komitees der Manufakturarbeiter in Floridsdorf (Niederösterreich [zu Wien 21.]); Zeugin im Wiener Anarchisten-Prozess vom 27. und 28. Mai 1884; Radicale
Kind: eines
Biographie
Johann Richter kam als Schuhmachergehilfe nach Wien, wo er bald zu einer wichtigen Persönlichkeit der radicalen Arbeiterbewegung wurde. Er war vom Juli 1880 bis Dezember 1883 Mitherausgeber und vom Juli 1880 bis April 1882 verantwortlicher Redakteur der Gewerkschaftszeitung »Schuhmacher-Fachblatt« (Wien). Im September 1881 übernahm er außerdem die Wiener Verwaltungsstelle des Inhaftiertenfonds der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs«, welche er bis zu seiner Verhaftung im April 1882 leitete. Seit Oktober 1881 gehörte Richter dem neugegründeten Exekutivkomitee der Wiener Radicalen an und wurde beauftragt, eine Druckerei für den Druck radicaler Flugblätter zu finden.
Johann Richter war auch an der so genannten Affäre »zum grünen Thor« im gleichnamigen Gasthaus (Franz Josef Markert) in Neulerchenfeld (Niederösterreich [zu Wien 8.]), Lerchenfelder Straße 14, beteiligt (siehe Eduard Doleschal): Am 4. Dezember 1881 feierten dort etwa sechzig Arbeiterinnen und Arbeiter mit ihren Familien das Barbarafest. Da erschien der Polizeikommissär Franz Kadlec (1841–1898) mit zwei Wachmännern in Zivil, machte sich Notizen und forderte einige Arbeiter auf, ihm ihre Namen anzugeben. Die Arbeiter wurden unruhig, einige stimmten das Lied »Die rote Fahne« an, und ein Arbeiter setzte sich zu Kadlec und fing an, das Lied »Der Staat ist in Gefahr« zu singen. Kadlec wollte ihn festnehmen lassen, und irgendjemand sagte: »Lasst keine Opfer fallen, Genossen!«. Ein Tumult brach los, Stühle wurden drohend geschwungen, Gläser in Richtung von Kadlec geworfen. Als dieser seinen Säbel ziehen wollte, wurde er ihm aus der Hand gerissen und zerbrochen. Kadlec versuchte, die Tür zum Hof zu erreichen, doch stellte sich ihm jemand entgegen. Und dann stürzten sich einige Arbeiter auf ihn und misshandelten ihn schwer. Schließlich erschien eine größere Abteilung der Sicherheitswache. Zwölf Arbeiter wurden verhaftet, darunter Johann Richter, der später ohne Anklageerhebung wieder freigelassen wurde.
Auf der für die Ablehnung des Wahlrechts durch die Wiener Arbeiterinnen und Arbeiter richtungsweisenden Versammlung in »Zobel’s Bierhalle« (Franz Zobel) in Fünfhaus (Niederösterreich [Wien 15.]), Gasgasse 4–6 / Zwölfergasse 3–15, am 25. März 1882 führte Richter den Vorsitz. Richter soll auch seit Jänner 1882 der Zentralleitung der Radicalen angehört haben, und in einem geplanten Exekutivkomitee hätte er die inneren Geschäftsangelegenheiten übernehmen sollen. Dazu kam es aber nicht mehr. Richter hatte Ende März 1882 dem Druckereibesitzer Josef Trostler (~1852–1917), Wien 6., Gumpendorfer Straße 95, einen fertigen, aus der Schweiz eingeschmuggelten Letternsatz zum Druck von 20.000 Exemplaren des Flugblatts »Lebenszeichen« übergeben und 60 Gulden Anzahlung geleistet.1 Der Drucker übergab die Bürstenabzüge der Polizei, welche Richter am 11. April 1882 verhaftete. Er wurde im Prozess, der am 25. Mai 1882 vor dem Schwurgericht Wien in geheimer Verhandlung der Verbrechen des Hochverrats, der Majestätsbeleidigung und der Störung der öffentlichen Ruhe sowie mehrerer Vergehen gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung angeklagt. Richter gab an, den Druck im Auftrag des seit 12. März 1882 in Zürich / Zurich / Zurigo (Kanton Zürich) lebenden Schneidergehilfen und Redakteurs Ignaz Formanek (1854–nach 1905) geordert zu haben. Richter wurde von den Geschworenen einstimmig zu zwölf Jahren schwerem Kerker verurteilt. Die Radicalen reagierten auf dieses harte Urteil am 30. Mai 1882 mit dem Flugblatt »Justizstrolche«.2
Johann Richter wurde in die Strafanstalt Suben (Oberösterreich) gebracht. Da er schon lange an Lungentuberkulose erkrankt war, kam dieses Urteil einem Todesurteil gleich. Nach Angaben eines Historikers sei er tatsächlich dort gestorben, doch beruht diese Annahme auf einem Irrtum. Sicher ist, dass sich die Genossinnen und Genossen um eine Erleichterung der Haftbedingungen für Richter bemühten und dass die ihm geschickten Unterstützungsgelder von der Gefängnisverwaltung retourniert wurden, mit dem Vermerk, dass 10 Gulden Reservegeld vorhanden sein müssten, damit der Häftling eine eigene Verpflegung erhalten könne. Sicher ist auch, dass aus dem Inhaftiertenfonds der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs« Geld an die Angehörigen Richters erging, der für seine gelähmte Mutter Antonia Richter in Jalub (Mähren [Jalubí, Tschechien]) sowie für seine in Wien lebende Ehefrau Leopoldine Richter und ihr gemeinsames Kind zu sorgen hatte. In der Strafanstalt Suben arbeitete Johann Richter teils in der Buchbinderei, teils als Schuhmacher.
Im Mai 1892 wurde Johann Richter wegen guter Führung vorzeitig entlassen und kehrte nach Wien zurück, schloss sich der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei« an, wurde 1892 Kassenbote der Gehilfenkrankenkasse der Schuhmacher sowie Obmann der Ortsgruppe Rudolfsheim des »Vereins der Schuhmacher Österreichs« und war noch im Jahr 1922 aktiv. Am 15. Juli 1932 feierte Johann Richter zusammen mit sozialdemokratischen Genossinnen und Genossen in Wien seinen 80. Geburtstag.
Johann Richter war nicht nur ein wichtiger Wegbereiter der Wiener radicalen Arbeiterbewegung. Auch das extremharte Urteil gegen ihn 1882 trug wesentlich zur Radikalisierung großer Teile der Wiener Arbeiterschaft bei.
Adressen
- Wien 4., Neumanngasse 11, 2. Stock, Tür 25 (1881)
Mitarbeiter*innen an Periodika
Schuhmacher-Fachblatt (Wien) 1880 bis 1883
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Autor / Version / Copyleft
Autor: Reinhard Müller
Version: Juni 2024
Anarchistische Bibliothek | Archiv | Institut für Anarchismusforschung | Wien
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Karte
- 1
Vgl. [anonym]: Lebenszeichen. [Wien]: [Druckerei Josef Trostler] [1882]; nur als Bürstenabzug einer Flugschrift vorhanden, am 11. April 1882 beschlagnahmt.
- 2
Vgl. [anonym]: Justizstrolche. [Wien]: [o. V.] [1882], Flugblatt. Die Weiterverbreitung der Druckschrift wurde durch das Verbot der Zeitung »Freiheit« (London) vom 3. Dezember 1881 geregelt, in welcher der Text ursprünglich veröffentlich wurde. Die Weiterverbreitung der Zeitung wurde mit Erkenntnis das Landes- als Strafgericht Prag vom 19. Februar 1882 in Österreich verboten.