Exkurs: Emma Goldman in Wien (1895 bis 1896)

Im September 1895 kam eine Frau nach Wien, die später noch international von sich reden machte: Emma Goldman (1869–1940). Die in Litauen gebürtige Russin gehört zu den führenden Anarchistinnen und Frauenrechtlerinnen der USA. Im August 1895 verließ sie New York City (New York, USA), wo sie im Exil lebte, kam nach London (England) und von dort im September 1895 nach Wien. »Wien war noch faszinierender, als Ed es mir beschrieben hatte. Die prachtvolle Häuserzeile auf der Ringstraße, vornehme Cafés, breite Promenaden mit stattlichen Bäumen, und vor allem der Prater, eher ein Wald als ein Park, es war eine der schönsten Städte, die ich je gesehen hatte. Bestärkt wurde das Ganze noch durch die Fröhlichkeit und Beschwingtheit der Wiener. London war ein Grab dagegen. Hier war Farbe und Lebensfreude. Ich wollte ein Teil davon werden, mich in das Leben hineinstürzen, in den Cafés und im Prater sitzen und die Leute beobachten. Doch ich war ja aus einem anderen Grund hier; Ablenkung konnte ich mir nicht leisten.«1 

Emma Goldmans Reise wurde von ihrem ehemaligen Geliebten, dem Grafiker und Illustrator Modest Stein (1871–1958), finanziert, der wie Goldman aus Kowno ‹Ковно› (Russland [Kaunas, Litauen]) stammte. In Wien wohnte Emma Goldman unter dem Decknamen »Mrs. Emma G. Brady« in Wien 13., Glasergasse 20, in Untermiete bei dem Agenten Wilhelm Deutsch. Den Namen »Brady« benutzte sie ein Einreiseverbot befürchtete, hätte sie ihren richtigen Namen genannt, . Das ist insofern bemerkenswert, weil sie den Namen ihres damaligen Lebensgefährten Edward Brady nutzte. Das war der Buchbindergehilfe Eduard Brady (1853–1903), der als Sozialrevolutionär Anhänger der radicalen Arbeiterbewegung war und in Wien eine der wichtigsten Untergrunddruckereien betrieben hatte. Er wurde im großen Wiener Anarchistenprozess am 29. November 1884 wegen Verbrechens des Hochverrats und anderer Delikte als einer der Haupttäter zu zwölf Jahren schwerem Kerker verurteilt und auf dem Gnadenweg im August 1892 vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Kurz danach ging er ins Exil nach New York City, wo er im Dezember 1892 Emma Goldman kennen lernte. Es war Brady, der nur schlecht bezahlte Jobs hatte, der Goldman zu einer Krankenschwesterausbildung in Wien drängte, weil sie danach finanziell unabhängiger wäre.

Emma Goldman begann am 1. Oktober 1895 ihre Ausbildung zur diplomierten Hebamme und Krankenschwester am Allgemeinen Krankenhaus in Wien. Hier besuchte sie einen Geburtshilfelehrgang beim Gynäkologen Gustav Braun (1829–1911), dessen Hebammenausbildung international angesehen war, und einen Lehrgang für Kinderkrankheiten. »Im Allgemeinen Krankenhaus wurden alle Krankheiten behandelt und für jede besondere Lehrgänge durchgeführt. Dem eifrigen und lernwilligen Studenten bot es gute Möglichkeiten. Es war eine bemerkenswerte Einrichtung, eine kleine Stadt für sich mit tausenden von Patienten, Schwestern, Ärzten und Pflegern. Die Fachärzte der einzelnen Stationen waren weltberühmt auf ihrem Spezialgebiet.«2 Neben ihrer eigentlichen Ausbildung, die sie im März 1896 mit je einem Diplom für Geburtshilfe und Krankenpflege abschloss, hörte Goldman auch Vorlesungen beim Zoologen und Anatomen Carl Bernhard Brühl (1820–1899) über Sexualität, insbesondere bei Homosexuellen und Lesbierinnen, konnte damit aber wenig anfangen. Eine besonderes Erlebnis wurde für sie eine Vorlesung beim Gründer der Psychoanalyse Sigmund Freud (1856–1939). »Klarer wurden mir diese Sachen erst später, als ich Sigmund Freud selbst hörte. Er sprach einfach, ernsthaft und mit klarer Logik, und ich hatte das Gefühl, aus einem dunklen Keller ins helle Tageslicht geführt zu werden. Zum ersten Mal begriff ich die ganze Bedeutung der sexuellen Unterdrückung und ihre Auswirkungen auf menschliches Denken und Handeln. Ich lernte mich selbst und meine eigenen Bedürfnisse zu verstehen; auch wurde mir klar, daß nur die verdorbenen Gedanken der Leute Freuds ernsthafte Absicht bezweifeln und unkeusch finden konnten.«3 Jedenfalls lassen sich die Einflüsse der Psychoanalyse auf die später wohl bekannteste anarchistische Propagandistin der »freien Liebe« auch biografisch belegen.

Ansonsten berichtete Emma Goldman in ihren Erinnerungen über ihren Wien-Aufenthalt noch über die prägende Lektüre der Werke von Friedrich Nietzsche (1844–1900), Henrik Ibsen (1828–1906) und Hugo von Hofmannsthal (1874–1929), vor allem aber über die sie zutiefst beeindruckende Eleonora Duse (1858–1924) als Magda in Hermann Sudermanns (1857–1928) Schauspiel »Heimat« (1893).

Emma Goldmans Kontakte zu Anarchisten vor Ort hielten sich in Grenzen. »In Wien mußte ich äußerst vorsichtig sein. Die Habsburger waren Despoten. Sozialisten und Anarchisten wurden streng verfolgt. Aus diesem Grunde konnte ich mich nicht offen meinen Genossen anschließen, wollte ich nicht ausgewiesen werden. Aber das hinderte mich nicht, interessante Leute zu treffen, die in verschiedenen sozialen Bewegungen aktiv waren.«4 Nur ein Genosse wird in der Autobiografie namentlich erwähnt, nämlich der Journalist bei der anarchistischen Zeitung »Die Zukunft« (Wien) Stefan Grossmann (1875–1935), der sie durch Wien führte. »Ich lernte einen jungen Anarchisten, Stefan Grossmann, kennen, der über alles, was die Stadt zu bieten hatte, gut Bescheid wußte. Vieles an ihm gefiel mir nicht. Er bemühte sich wie ein Chamäleon, seine Herkunft zu verleugnen und akzeptierte kritiklos alle nicht-jüdischen Gewohnheiten. Schon bei unserer ersten Begegnung erzählte er mir, daß sein Fechtmeister seine germanischen Beine bewundert hätte. […] Dennoch besuchte er mich oft, und mit der Zeit wurde er mir sympathisch.«5 Erst als die Abreise aus Wien anstand, änderte sich einiges in ihren Kontakten zu Anarchisten: »[…] ich ging nicht gerne; Wien hatte mir so viel gegeben. Ich vertrödelte noch zwei Wochen dort. Während dieser Zeit war ich oft mit Genossen zusammen und hörte viel von der anarchistischen Bewegung in Österreich. Gelegentlich erzählte ich auf kleinen Versammlungen von Amerika und unserem Kampf.«6

Im April 1896 verließ Emma Goldman Wien, und als sie in New York City ankam, erwartete sie Eduard Brady am Hafen mit einem Rosenstrauß. Ihre Wiener medizinischen Erfahrungen nutzte sie übrigens eine Zeitlang in New York City, wo sie unter dem Decknamen »Emma G. Smith« als »Vienna Scalp and Face Specialist« (Wiener Kopfhaut- und Gesichtsspezialistin) arbeitete.

 

Autor: Reinhard Müller
Version: Juni 2025
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Daten
von
September 1895
bis
April 1896
  • 1

    Emma Goldman (1869–1940): Gelebtes Leben. ›Living my life‹. In drei Bänden. Band 1. (Aus dem Amerikanischen übersetzt von Renate Orywia und Sabine Vetter.) Berlin: Karin Kramer Verlag 1978, S. 197; vgl. auch ebenda, S. 184 und S. 197–201. Original: Living my life. Garden City, N. Y. / New York, N. Y. 1931 und 1934, 2 Bände. Originaltext: »Vienna proved even more fascinating than Ed had described it. Ringstrasse, the principal street, with its array of splendid old mansions and gorgeous cafés, the spacious promenades lined with stately trees, and particularly the Prater, more forest than park, made the city one of the most beautiful I had ever seen. The whole was enhanced by the gaiety and light-heartedness of the Viennese people. London seemed a tomb by comparison. There was colour here, life and joy. I longed to become part of it, to throw myself into its generous arms, to sit in the cafés or in the Prater and watch the crowds. But I had come for another purpose; I could not afford to be distracted.«

  • 2

    Emma Goldman (1869–1940): Gelebtes Leben. ›Living my life‹. In drei Bänden. Band 1. (Aus dem Amerikanischen übersetzt von Renate Orywia und Sabine Vetter.) Berlin: Karin Kramer Verlag 1978 , S. 197. Originaltext: »The Allgerneines Krankenhaus, which gave courses on and treated every ill of the human body, offered splendid opportunities to the eager and willing student. I found the place a remarkable institution, a veritable city in itself, with its thousands of patients, nurses, doctors, and care-takers. The men in charge of the departments were world-renowned in their particular spheres.«

  • 3

    Emma Goldman (1869–1940): Gelebtes Leben. ›Living my life‹. In drei Bänden. Band 1. (Aus dem Amerikanischen übersetzt von Renate Orywia und Sabine Vetter.) Berlin: Karin Kramer Verlag 1978 , S. 200. Originaltext: »Greater clarity in these matters came to me later on when I heard Sigmund Freud. His simplicity and earnestness and the brilliance of his mind combined to give one the feeling of being led out of a dark cellar into broad daylight. For the first time I grasped the full significance of sex repression and its effect on human thought and action. He helped me to understand myself, my own needs; and I also realized that only people of depraved minds could impugn the motives or find impure so great and fine a personality as Freud.«

  • 4

    Emma Goldman (1869–1940): Gelebtes Leben. ›Living my life‹. In drei Bänden. Band 1. (Aus dem Amerikanischen übersetzt von Renate Orywia und Sabine Vetter.) Berlin: Karin Kramer Verlag 1978, S. 199. Originaltext: »In Vienna I had to be extremely careful. The Habsburgs were despotic, the persecution of socialists and anarchists severe. I could therefore not associate openly with my comrades, as I did not wish to be expelled. But it did not prevent me from meeting interesting people active in various social movements.«

  • 5

    Emma Goldman (1869–1940): Gelebtes Leben. ›Living my life‹. In drei Bänden. Band 1. (Aus dem Amerikanischen übersetzt von Renate Orywia und Sabine Vetter.) Berlin: Karin Kramer Verlag 1978, S. 199. Originaltext: »I met a young anarchist, Stefan Grossmann, who was remarkably well informed about the life of the city. He had many traits I disliked: his efforts to hide his origin in chameleon-like acceptance of every silly Gentile habit irritated me. The very first time I met Grossmann he told me that his fencing-master had admired his germanische Beine (Germanic legs). […] However, he came often, and gradually I learned to like him.«

  • 6

    Emma Goldman (1869–1940): Gelebtes Leben. ›Living my life‹. In drei Bänden. Band 1. (Aus dem Amerikanischen übersetzt von Renate Orywia und Sabine Vetter.) Berlin: Karin Kramer Verlag 1978, S. 201. Originaltext: »But I was loath to leave Vienna; it had given me so much. I lingered on for two more weeks. During that time I was a great deal with my comrades and learned much from them about the anarchist movement in Austria. At several small gatherings I lectured on America and our struggle in that country.«