Zum weltanschaulichen Profil der Unabhängigen Socialisten

Im Zentrum des Kampfs der Unabhängigen Socialisten stand ihr großer Konkurrent in der Arbeiterbewegung: die Sozialdemokratie. »Bevor wir nicht die Socialdemokratie kampfunfähig gemacht haben, ist an ein siegreiches Vordringen unsererseits nicht zu denken. Nur über die Trümmer der socialdemokratischen Partei führt unser Weg zu unserem Ziele. Die Socialdemokratie ist seit den letzten Jahren aus einer Revolutionspartei eine Ordnungspartei, eine der festesten Stützen und Säulen des modernen Wirtschaftssystems geworden.«1 Kampf gegen die Sozialdemokratie heiße aber, »nicht ihren Anhänger#, sondern nur ihren Principien den Krieg erklären, und ebenso ihre Führer rücksichtslos bekämpfen.«2 Die besondere Empörung der Unabhängigen Socialisten erregte der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis der österreichischen Sozialdemokratie. »In der Theorie war man anfangs revolutionär und erklärte dem Bestehenden den Vernichtungskrieg; in der Praxis verlor sich die rothe Färbung, man sank mehr und mehr zur spießbürgerlichen Socialreform herab, und scheute sich nicht, selbst um die erbärmlichsten und kleinlichsten Bevorrechtungen, welche den bevorzugten Classen zu Theil geworden, Verlangen zu tragen, um an der Mitarbeit bei dem angeblich so befehdeten Staatssystem theilnehmen zu können.«3 Das von der Sozialdemokratie geforderte allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht war für die Unabhängigen Socialisten der zentrale Verrat am sozialen Kampf, denn dieses bedeute zugleich die Anerkennung des Prinzips Staat. Damit ginge es der Sozialdemokratie nicht mehr um eine radikale Veränderung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems, sondern um Reformierung extremer Auswüchse des Kapitalismus, ohne den Kapitalismus selbst in Frage zu stellen: »Socialreformerei (denn das ist der Staatssocialismus an sich) seitens der Socialdemokratie.«4 Außerdem sei das Wahlrecht ein Mittel zur Verblendung der Arbeiterschaft: »Eines aber kann durch das allgemeine Wahlrecht erreicht werden: ehrsüchtige und egoistische Demagogen können dabei ihre Rechnung finden, und wenn man sagt, das allgemeine Wahlrecht sei ein Agitationsmittel, so erwidern wir: Ja wohl, ganz richtig; es ist ein vorzügliches Agitationsmittel; jedoch nicht für die Arbeitersache, sondern für die Sache derer die gewählt werden, die den Arbeitern das tausendjährige Reich versprechen und dann ihre Taschen füllen, kurz ihren persönlichen Vortheil verdammt gut wahrnehmen, für das Proletariat aber nichts thun, wie Figura zeigt; ferner ist es noch mehr, es ist ein sehr gutes Abführmittel für die Geldtaschen des Proletariats, und ein zeitweises Abführen soll sehr gesund sein, wenigstens nach Adam Riese. Die Arbeiterschaft aber wird durch trügerische Hoffnungen geblendet, sie wird in Schlummer gelullt, und von den eigentlichen Zielen abgelenkt.«5

Eine Schwierigkeit der Unabhängigen Socialisten bestand darin, ein »Programm« aus prinzipiellen Gründen abzulehnen, »weil wir überzeugt sind, daß sich die Forderung der Freiheit und Gerechtigkeit nicht schablonisiren lassen, ohne sie nicht eben dadurch auf das tiefste zu verletzen.«6 Ihre grundlegenden und immer wieder propagierten Ziele sind – einmal abgesehen von der Abschaffung des Staates – eindeutig: a) Beseitigung der kapitalistischen Produktionsform; b) Vergesellschaftung und allgemeine Zugänglichmachung der Produktionsmittel; c) gemeinsame Produktion und gemeinsame Konsumtion. »Das ist freilich nicht präcise und nur im Allgemeinen gesprochen,« aber für die Unabhängigen Socialisten machte es wenig Sinn, von der zukünftigen Gesellschaft ein »in fester Form beharrendes Bild uns zu entwerfen.«7 Dabei erwarteten die Unabhängigen Socialisten – und darin unterscheiden sie sich von den Anarchisten der 1880er-Jahre und den Sozialrevolutionären – einen Sieg ihres Kampfes nicht für die nächste Zukunft. »Wird das neunzehnte Jahrhundert die Entscheidungsstunde dieses großen Kampfes bringen? Es ist zweifelhaft. Dieser Kampf kann sich noch durch mehrere Generationen durchziehen, er wird aller Voraussicht nach in auf- und absteigender Linie sich bewegen, hier Erfolge bringen, dort durch einen unglückseligen Fehler, durch einen taktischen Mißgriff diese Erfolge verlieren«.8 Die Ursache liege vor allem in der unvorhersehbaren Entwicklung der Gesellschaft. Darin besteht ein weiterer wesentlicher Unterschied zur marxistischen Sozialdemokratie, die in bemerkenswert unkritischer Wissenschaftsgläubigkeit an die Vorhersagbarkeit der Gesellschaftsentwicklung glaubte. Und anders als im historischen Materialismus9 waren die Unabhängigen Socialisten überzeugt, dass die Ökonomie einer Gesellschaft nicht oder nur bedingt deren Bewusstsein bestimme. Zwar seien die Produktionsmittel, deren technischer Fortschritt und deren Verteilung sozial durchaus von Bedeutung, doch stehen im Mittelpunkt ihrer Welt- und Gesellschaftsbetrachtung ethische Grundsätze. Allerdings glaubten sie – ganz in der Tradition der Aufklärung und deren Optimismus stehend – sehr wohl, dass es eine Art naturgemäßes Streben beim Individuum wie bei Gemeinschaften gäbe. »Der moralische und geistige Fortschritt der Menschheit wird sich stets nur langsam, schrittweise, der Natur gemäß vollziehen. Es wird und muß eine Zeit kommen, wo die Menschheit den höchsten Punkt der geistigen Reife und Vervollkommnung erstrebt haben wird, um das Ideal der individuellen Freiheit in seiner denkbar möglichen Ausdehnung zu realisiren und die Organisation der freien Gesellschaft ausbauen und zur höchsten Blüthe bringen zu können. Und dieses Bestreben zu unterstützen, die Vervollkommnung der Menschheit nach dieser Seite hin zu erlangen, ist vorderhand unsere erste und höchste Aufgabe.«10 Die freie Gesellschaft, die im sozialen Kampf und mit den ökonomischen Mitteln des Kommunismus erstritten werden soll, bestimmt sich durch einen möglichst hohen Grad an individueller Freiheit. »Die Freiheit ist persönlich. Das heißt: wahre Freiheit ist nur da vorhanden, wo jede einzelne Person, jedes einzelne Individuum völlig frei ist. Wo die Mehrheit frei und die Minderheit geknechtet ist, wo die Minderheit frei und die Mehrheit unfrei ist, da ist die Freiheit nicht zu Hause. Wenn in einer Gesellschaft Millionen frei wären und nur ein Einziger unfrei, so hätte dieser Eine das Recht, den Millionen den Fehdehandschuh hinzuwerfen und zu sagen: ›Eure Rechnung ist falsch; Ihr habt mich nicht mit einbezogen, ich erkenne sie nicht an.‹«11 Damit scheidet die politische Organisation in Form einer repräsentativen Demokratie wegen ihres Mehrheitsprinzips – der Diktatur der Mehrheit über die Minderheit – für die Unabhängigen Socialisten aus: »Es liegt klar auf der Hand, daß Demokratismus im Socialismus die Grundlage der Autorität und Herrschaft bildet, zu deren Existenzsicherung sie die Gewalt im Gefolge haben muß. Wo aber Autorität und Herrschaft anwesend ist, kann von einer Freiheit keine Rede sein und mithin müßte der Begriff ›Freiheit‹ ein leerer Schall sein.«12 Dies gilt auch für den als Fernziel des Marxismus angestrebten Kommunismus. »Aus diesem Grunde verneinen wir von Vornherein jedes autoritäre Organisationssystem im communistischen Gemeinwesen, weil reactionär, und wünschen, daß sich die Menschheit vollständig zwanglos, nach seinem Ermessen, Umständen, Orts- und sonstigen Verhältnissen organisirt, stets die Souverenität [!] des Individuums wahrend.«13 Dennoch huldigten die Unabhängigen Socialisten keinem schrankenlosen Individualismus, denn für sie war der Mensch ein soziales Individuum. »Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung, Aufgabe des sozialen Verbandes ist es, durch die Zusammenfassung aller Kräfte dem Einzelnen sein Recht wirksamer zu gewährleisten, als er selbst, auf die eigene Kraft verwiesen, das jemals zu thun vermöchte. Zu den Rechten des Menschen gehört aber auch die persönliche Freiheit. […]. Die persönliche Freiheit hört in der vernünftig eingerichteten Gesellschaft da auf, wo die Freiheit eines anderen Individuums, wo die Interessen der Gesamtheit durch ihre Bethätigung geschädigt würden. Sie muß vor dieser Schranke Halt machen, wenn der einzelne nicht durch Mißachtung der Rechte seines Nachbars dessen persönliche Freiheit und damit die Freiheit als solche mit Füßen treten will. Sie muß sich diese Begrenzung gefallen lassen, um nicht den Bestand der Gesellschaft zu gefährden; denn eine Gesellschaft, in der Jeder willkürlich thun und lassen könnte, was ihm beliebt, würde keinen Tag zusammenhalten.«14 Dementsprechend positionierte August Krčal (1860–1894) die Unabhängigen Socialisten im damaligen politischen Spektrum: »Rechts die Strömung der Socialdemokratie (lies ›große Kaserne Staatssocialismus‹ Anm[erkung] d[er] Red[aktion]), links die Strömung des Individualismus und in der Mitte durch als Hauptstrom nimmt die krystallisirte Arbeiterbewegung aller Länder als der Triumph der Neuzeit ihren Lauf: das ist der anti-autoritäre, beziehungsweise anarchistische Socialismus.«15 Hier wird zwar von einem »anarchistischen Socialismus« gesprochen, und die Unabhängigen Socialisten führten schon in ihrer Selbstbezeichnung den Begriff des Sozialismus. Dennoch vertraten sie einen »kommunistischen Anarchismus« in der Tradition von »Krapotkine, Reclus, Most, Merlino, Malatesta u[nd] A[nderen].«16 Dieser Widerspruch in der Terminologie lässt sich einerseits aus der Genese der Unabhängigen Socialisten erklären, die ja in den Jahren einer geeinten österreichischen Arbeiterbewegung mit der Sozialdemokratie bis zum so genannten Einigungsparteitag in Hainfeld (Niederösterreich) für den Sieg des Sozialismus kämpften. Andererseits gab es eine enge Bindung an die Unabhängigen im Deutschen Reich, die sich um den Anarchisten Gustav Landauer (1870–1919) und die Zeitung »Der Sozialist« (Berlin) sammelten. Erst Mitte der 1890er-Jahre sollte sich die Bezeichnung »kommunistischer Anarchismus« in Österreich endgültig durchsetzen. Allerdings ist darunter kein autoritärer, kein Staatskommunismus, wie ihn die Marxisten planten, zu verstehen, sondern ein »freiwilliges Zusammentreten der Menschen […], mit Abwesenheit jedes Zwanges, wo ihr bindendes Verhältniß Solidarität und Harmonie bildet.«17

Das Spektrum der Kritik der Unabhängigen Socialisten an den herrschenden Verhältnissen und Institutionen ist breit. Ein wichtiges Thema waren die Gewerkschaften. In der von den Sozialdemokraten vorgenommenen Zentralisierung gewerkschaftlicher Organisationen und Konjunktion mit der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei« sahen die Unabhängigen Socialisten bloß das Bestreben, die »Gewerkschaften zur Melkkuh der socialdemokratischen Partei [zu] machen«. Stattdessen forderten sie von den Arbeitern »Einigkeit auf Grundlage der gemeinsamen wirthschaftlichen Interessen des Proletariates im Zeichen des Föderalismus!«18 Dem damals von den Sozialdemokraten immer wieder erhobenen Vorwurf, die Unabhängigen Socialisten lehnten Gewerkschaften grundsätzlich ab, traten sie massiv und wiederholt entgegen: »Die Praxis hat […] gelehrt, daß man die Arbeiter zu gewerkschaftlichen Organisationen weit leichter heranziehen kann, als zu politischen, und schon deshalb können wir nicht die Negation der Gewerkschaften auf unsere Fahne schreiben, wie ja in der That wenige Anarchisten in der ganzen Welt existiren, welche nicht Mitglieder irgend welcher Gewerkschaften sind und sogar großtheils als solche sehr emsige Thätigkeit entwickeln.«19 Tatsächlich lässt sich mindestens für die wortführenden Unabhängigen Socialisten deren Zugehörigkeit zu gewerkschaftlichen Organisationen belegen. Was sie an der damaligen Gewerkschaftsbewegung in Österreich ablehnten, war die Nutzung von Gewerkschaften durch Sozialdemokraten für den politischen und weniger für den ökonomischen Kampf. »Die größte Bedeutung werden aber die Gewerkschaften im Befreiungskampfe der Arbeiterclasse erlangen, weil dieselben das Schwergewicht ihrer Thätigkeit auf das Wirtschaftsgebiet legen, wo die starken Fundamente der capitalistischen Macht ruhen.«20 Von den späteren anarchosyndikalistischen Positionen weit entfernt, sahen die Unabhängigen Socialisten in den Gewerkschaften jedoch kein Mittel zur Erringung einer neuen Gesellschaftsordnung, sondern nur eine Übergangslösung zur Linderung der ärgsten Auswüchse der herrschenden Wirtschaftsordnung. »Wir müssen unumwunden zugeben, daß in allernächster Zeit die heutige Unordnung nicht beseitigt sein wird und wir noch lange die brutalen Angriffe der Machthaber zu fühlen bekommen werden, d. h. die Besitzenden werden uns noch ferner bedrücken, uns ökonomisch knechten, unsere Lebenslage herabdrücken. Das kann uns nicht gleichgilitg sein. […]. Und um diese Angriffe der Capitalisten – und diese werden sie auch ferner machen, denn die Katze läßt das Mausen nicht – möglichst zu paralysiren, um ein Gleichgewicht im ökonomischen Kampfe zwischen dem übermächtigen Capitale und den sonst machtlosen Arbeitern herzustellen, sind Gewerkschaften unerläßlich.«21

Ein anderes, für den Anarchismus stets zentrales Thema war der Militarismus: »Die Militärgewalt ist zum Schutze des Staates, und dieser wieder zum Schutze der capitalistischen Gesellschaft vorhanden.«22 Doch der Militarismus sei nicht nur ein gewichtiges Mittel zum Machterhalt, er sei auch das millionenfache Vorbild für anarchistische Attentate. So rief Samuel David Friedländer (1865–1942) angesichts der Anschläge französischer Anarchisten den Repräsentanten der herrschenden Gesellschaft zu: »Wer hat die heute herrschenden Anschauungen über Terrorismus großgezogen, gehegt und gepflegt? Wer gab in der Geschichte die markantesten Beispiele davon? Ihr selbst, ihr Elenden, und heute thut ihr so entsetzt über die furchtbaren Früchte, die ihr selbst gezeitigt? […] Die Attentate von Paris, was sind sie anderes, als die in die Praxis übersetzte Theorie, [!] des von Euch gelehrten Massenmordes. Sie sind eurem Innersten entsprungen; sie sind euer eigenes Werk. Ihr seid die Mörder.«23 Bemerkenswert ist zweifelsohne die in einem Leitartikel der Zeitung »Die Zukunft« (Wien) vollzogene Distanzierung von den Propagandisten der Tat, also jenen Anarchisten der 1880er- und frühen 1890er-Jahre, die mittels individueller Gewalt (Attentate) oder kollektiver Gewalt (Aufstände) die Idee des Anarchismus zu verbreiten suchten: »Nehmen wir nun die Mittel und Wege, die von den Socialisten ergriffen und eingeschlagen werden, als Eintheilungsgrund, so erhalten wir […]: Reformpolitiker (Rechte), Socialrevolutionäre (Centrum), Propagandisten der That (linker Flügel), die man theils absichtlich, fälschlich, theils aus Unwissenheit: Anarchisten nennt.«24

Unter den unzähligen Themen der Unabhängigen Socialisten sei noch eines herausgegriffen: die Überproduktion und Arbeitszeitverkürzung. »Aber die Menschheit wird nicht wahnsinnig und ins Tolle, wie es heute der Fall, produciren, ungeheuere Waarenvorräthe anhäufen, damit sie verfaulen und verderben – sie wird einfach schaffen, was sie benöthigt, und darnach ihre Arbeitsdauer, ihre Productivität zu bemessen suchen. Wie wenig unter solchen Verhältnissen auf den Einzelnen nützliche Arbeit entfällt, wird sich wohl Jeder […] selbst ein Urtheil bilden.«25

Dieses Kapitel soll nicht geschlossen werden, ohne auf einen vor allem seit 1895 wahrnehmbaren Wandel hinzuweisen. Markant ist das Zurückweichen der Selbstbezeichnung »Unabhängiger Socialist« zugunsten des »Anarchisten». Dies ist schon deshalb bemerkenswert, weil das Bekenntnis, Anarchist zu sein, vielfach hinreichender Grund für behördliche Verfolgung war. Allerdings meinten diese Anarchisten: »Aus der bloßen Anwendung des Wortes: ›Anarchist‹ lässt sich bezüglich dessen, der sich dazu bekennt, nichts weiter folgern, als dass er 1. ein Gesellschaftsideal im Kopfe trägt, das anders ist als die heutige Gesellschaft. (Diese Thatsache an und für sich kann nicht strafbar sein, sonst müsste es auch bei den Socialdemokraten der Fall sein, die sich aber offen als solche bekennen dürfen.) Dieses Ideal ist das der Herrschaftslosigkeit, d. h. der Einzelne soll sein eigener Herr sein können, von allen äußeren Factoren unabhängig. Natürlich kann die bloße Ansicht, welcher Gesellschaftszustand der beste wäre, keinerlei Verbrechen oder Vergehen involvieren. Auch nicht die Mittheilung dieser Ansicht; 2. für dieses Gesellschaftsideal eine bestimmte Organisation von Production und Consumtion wünscht; beispielsweise eine communistische, d. h. also, die Organisation von Berufsgruppen in kleinen Communen, die auf Grundlage des freien Vertrages producieren und auf Grundlage des freien Genussrechtes consumieren. Diese Anschauung kann ebensowenig wie die vorige und aus denselben Gründen den Thatbestand einer Verurtheilung bilden; 3. Kritik übt an der bestehenden Gesellschaftsordnung, indem er als Ursache ihrer Schäden gewisse Factoren nennt, wie z. B. Staat, Eigenthum und moralische Factoren. Da an denselben Factoren von den verschiedensten bürgerlichen Elementen ebenfalls und ungestraft Kritik geübt wird, kann man unmöglich den Anarchisten allein dafür zur Rechenschaft ziehen. Eine Kritik, die die erlaubten Grenzen überschreitet, ist natürlich im bloßen Namen ›Anarchist‹ nicht inbegriffen; 4. Bleibt nur mehr das individualistische Moment im Anarchismus, das dem Anarchisten in seinem Ich das Centrum und die Hauptsache seines Lebens sehen lässt, die ihn über Moral, Religion und Altruismus hebt. Eine Weltanschauung, die von unzähligen bürgerlichen Literaten getheilt wird und als Weltanschauung von vornherein straflos ist. Das sind die Dinge, an die man zu denken hat, wenn man den Namen ›Anarchist‹ ausspricht. Alles Andere liegt nicht d’rin oder ist willkürlich hineingelegt.«26 Dass die Behörden diesem Bekenntnis nicht folgen würden, war auch den Anarchisten klar; aber dann bliebe ihnen – und hier zeigt sich wohl erstmals die fröhliche Seite des Anarchismus in Österreich – noch immer das »ewige Lachen«: »Und wenn es Dir schlecht geht und Du ganz elend bist, wenn der Wind durch die Löcher Deiner Lumpen pfeift und Dein Magen dazu die Begleitung knurrt; wenn Du nichts hast, gar nichts, nicht einmal einen Willen, wenn Dich kein Mensch mehr ansieht; wenn Du rund um Dein Elend gehst und Du findest auch nicht einen Punkt, der im entferntesten heiter scheint: dann sollst Du erst recht lachen, ein großes schallendes Gelächter, denn Du darfst nicht vergessen, dass Du in der besten aller Welten lebst, in der ›jedem das Seine‹ zutheil wird. Das Deine ist das Lachen. Anderes hast Du nicht. Balle die Faust und lache. Du stehst der ganzen Welt gegenüber und lachst ihr ins Gesicht. Du brauchst sie nicht, sie zerfliegt vor Deinem Gelächter. Dein Lachen ist innerlicher Anarchismus, unconfiscabel!«27


Autor: Reinhard Müller
Version: Juni 2025
Anarchistische Bibliothek | Archiv | Institut für Anarchismusforschung | Wien
Copyleft

 

Daten
von
1889
bis
1896
  • 1

    S. D. F. [d. i. Samuel David Friedländer (1865–1942)]: Unsere Stellung zur Socialdemokratie, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 1 (27. August 1892), S. 1–2, hier S. 1.

  • 2

    S. D. F. [d. i. Samuel David Friedländer (1865–1942)]: Unsere Stellung zur Socialdemokratie, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 1 (27. August 1892), S. 1–2, hier S. 1.

  • 3

    S. D. F. [d. i. Samuel David Friedländer (1865–1942)]: Zur Situation. I, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 2 (17. September1892), S. 1–2, hier S. 1.

  • 4

    [Anonym]: Ueber Staatssocialismus. I, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 6 (12. November 1892), S. 4–5, hier S. 5.

  • 5

    G. M. [d. i. Georg Matzinger (1848–1934)]: Parlamentarismus und Wahlrecht, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 7 (26.  November 1892), S. 1–3, hier S. 3.

  • 6

    [Georg] Matzinger (1848–1934): Der Weg zum Ziel, in: Die Zukunft (Wien), 3. Jg., Nr. 2 (11. 1. 1895), S. 1.

  • 7

    S. D. F. [d. i. Samuel David Friedländer (1865–1942)]: Eine »Kritik« unseres Manifestes, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 1 (27. August 1892), S. 2–3, hier S. 3.

  • 8

    ***: Zum socialen Kampf, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 1 (27. August 1892), S. 3–4, hier S. 3.

  • 9

    Zur Kritik vgl. Jemenfoutiste [Pseudonym]: Ueber materialistische Geschichtsauffassung, in: Die Zukunft (Wien), 3. Jg., Nr. 8 (5. Juli 1895), S. 3–4.

  • 10

    Jemenfoutiste [Pseudonym]: Ueber materialistische Geschichtsauffassung, in: Die Zukunft (Wien), 3. Jg., Nr. 8 (5. Juli 1895), S. 3–4, hier S. 4.

  • 11

    [Anonym]: Die Freiheit und ihre vernunftgemäßen Grenzen, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 1 (27. August 1892), S. 4–5, hier S. 4.

  • 12

    [August Krčal (1860–1894)]: Socialdemokratie, Socialismus und Individualismus. II, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 9 (24. Dezember 1892), S. 1.

  • 13

     A. K. [d. i. August Krčal (1860–1894)]: Socialdemokratie, Socialismus und Individualismus. III, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 11 (28. Jänner 1893), S. 1–2, hier S. 1.

  • 14

    [Anonym]: Die Freiheit und ihre vernunftgemäßen Grenzen, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 1 (27. August 1892), S. 4–5, hier S. 5.

  • 15

     A. K. [d. i. August Krčal (1860–1894)]: Socialdemokratie, Socialismus und Individualismus. [I], in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 7 (26. November  1892), S. 1.

  • 16

     A. K. [d. i. August Krčal (1860–1894)]: Halbheiten, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 10 (14. Jänner 1893), S. 1. Die genannten Anarchisten zählten damals zu den führenden Vertretern des kommunistischen Anarchismus: der im Exil lebende russische Gelehrte  Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842–1921), der französische Geograf Élisée Reclus (1830–1905), der Buchbindergeselle, Journalist und Zeitungsherausgeber Johann Most (1846–1906), der italienische Rechtsanwalt, Journalist und Schriftsteller Francesco Saverio Merlino (1856–1930), der später allerdings ein Reformsozialist wurde, sowie der italienische Journalist und Revolutionär Errico Malatesta (1853–1932).

  • 17

     A. K. [d. i. August Krčal (1860–1894)]: Socialdemokratie, Socialismus und Individualismus. IV, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 12 (11. Februar 1893), S. 1–2, hier S. 2.

  • 18

    [Anonym]: Die Gewerkschaften und – der Centralismus, in: Die Zukunft (Wien), 3. Jg., Nr. 3 (25.  Jänner 1895), S. 1.

  • 19

    J. E. [d. i. Julius Ehinger (1868–1940)]: Zur Revolutionirung der Gewerkschaften, in: Die Zukunft (Wien), 3. Jg., Nr. 4 (27. Februar 1895), S. 1.

  • 20

    J. H. [d. i. Johann Hansl (~1860 – ?)]: Der Zweck der Gewerkschaften, in: Die Zukunft (Wien), 3. Jg., Nr. 8 (5. Juli 1895), S. 4.

  • 21

    J. H. [d. i. Johann Hansl (~1860 – ?)]: Der Zweck der Gewerkschaften, in: Die Zukunft (Wien), 3. Jg., Nr. 8 (5. Juli 1895), S. 4.

  • 22

    A. S. [d. i. Anton Stránský (~1860–?)]: Die österr. Arbeiterbewegung, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 16 [recte 15] (25. März 1893), S. 3.

  • 23

    S. D. F. [d. i. Samuel David Friedländer (1865–1942)]: Lügen, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 6 (12. November 1892), S. 4.

  • 24

    G. M. [d. i. Georg Matzinger (1848–1934)]: Der Socialismus und seine verschiedenen Systeme. [I], in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 8 (10. Dezember 1892), S. 1–3, hier S. 3.

  • 25

     A. K. [d. i. August Krčal (1860–1894)]: Socialdemokratie, Socialismus und Individualismus. III, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 11 (28. Jänner 1893), S. 1–2, hier S. 1.

  • 26

    Der Antikrat [Pseudonym]: Unser Bekenntnis, in: Die Zukunft (Wien), 3. Jg., Nr. 9 (19. Juli 1895), S. 1.

  • 27

    Jemenfoutiste [Pseudonym]: Das ewige Lachen. (Je m’en fous!), in: Die Zukunft (Wien), 3. Jg., Nr. 11 (16. August 1895), S. 1. Das Pseudonym, das bei mehrern Beiträgen in der Zeitung benutzt wurde, ist programmatisch: »Je m’en fous«, französisch derb für »Das ist mir scheißegal«.