Josef Peukert: Das Treffen mit dem Sozialrevolutionär Anton Kammerer in Wien am 16. Dezember 1883
Das Treffen mit dem Sozialrevolutionär Anton Kammerer in Wien am 16. Dezember 18831
»Vor allen Dingen muß ich hier erklären, daß ich über die vorhergehenden Akte in Deutschland bis zur Zeit dieses Besuches absolut nichts Positives wußte. Mir waren, außer dem in Stuttgart gefangenen Kumitsch, weder die Täter noch die Taten weiter bekannt, als was ich in der Tagespresse darüber gelesen hatte. Erst, wie nun weiter folgen wird, erfuhr ich allerdings aus dem Munde Kammerers alles Nähere.
Nach einer herzlichen Begrüßung machte ich ihn auf die Gefahr seines Besuches aufmerksam, indem ich ihm den am gegenüberliegenden Fenster sitzenden Spitzel zeigte. Doch er meinte ganz ruhig, er mußte mich sehen, da er seinen Eltern eine Nachricht zukommen lassen müsse, und ich sei der einzige, dem er sich anvertrauen könne. Er sei im Bureau der ›Zukunft‹ gewesen, und dort habe man ihm meine Wohnung gesagt, wo er mich treffen würde, da er nur mich sprechen wolle. Er erzählte mir auch unumwunden, daß er der Schütze auf Hlubek war, dem er schon immer für seine Schändlichkeiten Rache gelobt. Der nächste Schuß aber würde ›höher‹ gehen. Sein größtes Bedauern aber war die Verhaftung der Genossen, da niemand etwas von seinem Vorhaben, ja nicht einmal von seiner Anwesenheit gewußt habe. Speziell bat er mich, alles aufzubieten, um den Genossen Schaffhauser frei zu bekommen, der schon so viel unschuldig habe leiden müssen. Wie er mir sagte, war er gerade angekommen und wollte einen Freund aufsuchen, als er erfuhr, es finde eine Versammlung statt; und dann habe er auch den Hlubek in die Versammlung gehen sehen, aber nicht ankommen können. So habe er gewartet, bis er herauskam. Und leider seien die Genossen so dicht an Hlubek gewesen, sonst hätte er noch einen der Spitzel, den er besonders haßte, niedergeknallt.
Einmal im Zuge, schien es ihm ein Herzensbedürfnis zu sein, mir auch alle anderen Akte, an denen er be[183]teiligt gewesen, zu erzählen, um meine Meinung darüber zu erfahren. Um es kurz zu machen, war es Stellmacher, welcher die Pläne gemacht und die Leitung gehabt hatte. (Stellmacher war hauptsächlich durch die Behandlung durch Most zu dieser Tätigkeit bewogen worden. Stellmacher hatte vor der Enthaftung Mosts in London verschiedene Nummern der ›Freiheit‹ unter großen persönlichen Opfern in Zürich drucken lassen, wobei er alles, bis auf sein Bettzeug, ins Pfandhaus brachte. Als Most loskam und Stellmacher nicht gleich die ›Freiheit‹ mit nach Amerika geben wollte, wurde er von Most auf das häßlichste der Geldunterschlagung und Spitzelei brieflich verdächtigt. Darüber wurde Stellmacher dermaßen empört, daß er eben durch Taten beweisen wollte, wie Unrecht man ihm getan hatte.)
Über die Tat in Straßburg wurde ich nicht recht klug. Nur soviel entnahm ich, daß sie verfehlt war. Für Stuttgart hatte Stellmacher einen ganz anderen Plan zur Ausführung gehabt. Derselbe sei jedoch nicht ausführbar gewesen, und da hätten sie nun, vier Mann, auf, dem Trockenen festgesessen, da sie nicht das Geld zur Rückfahrt hatten. Mißmutig durch die Straßen schlendernd, kamen sie an einem Bank- und Wechselgeschäft vorüber, wo ein Haufen Geldes im Schaufenster lag und innen nur zwei Männer gesessen hatten; und da sei ihnen plötzlich der Entschluß gekommen, hinein zu gehen und zu nehmen, was sie kriegen konnten. Später auf dem Bahnhof habe Kumitsch in der Erregung Dummheiten gemacht und sei in ein Kupee 1. Klasse eingestiegen, wo er doch garnicht hineinpaßte, und das sei ihm bei der Revision des Zuges durch die alarmierte Polizei zum Verhängnis geworden.
Als mir Kammerer die ganze Geschichte in ihren Einzelheiten in seiner bescheidenen Weise erzählt hatte, wurde ich mächtig von seiner offenbaren Hingabe für die Sache ergriffen, sodaß mir Schmerz und Rührung die Kehle zuschnürten, als ich sprechen wollte. Denn es war nur aus Begeisterung und Tatendrang für die [184] Sache, daß er sich an alledem beteiligte. Man muß sein treues klares Auge geschaut, sein kindlich gutes Gemüt gekannt haben – dabei war er ein von Jugend, Lebenslust und Gesundheit strotzender Athlet – um zu begreifen, welch heiliger tiefer Haß aus seinen Worten gegen die herrschende Raub- und Tyrannen-Gesellschaft sprach. Nur dieser lodernde Haß vermochte wohl Kammerer wie auch Stellmacher zu veranlassen, ihre Taten in den Banken in solch grausamer Weise auszuführen.
Erst nachdem ich mich wieder einigermaßen gesammelt, suchte ich ihm, mit aller Rücksichtnahme auf seine guten Absichten, begreiflich zu machen, wie bei solchen Akten unter den bestehenden Verhältnissen durch rohe brutale Gewalt der Propaganda eher geschadet als genützt wird. Zudem seien solche Akte nicht geeignet, die eingesetzten Opfer mit dem voraussichtlichen materiellen Gewinn für die Sache aufzuwiegen. So sagte ich ihm auch, daß solche opfermutige Menschen wie er und seine Kameraden nicht häufig sind, und die seien schon deshalb in höheren und größeren Taten geboren. Kammerer gab mir in allem Recht, aber Stellmacher habe die Pläne entworfen, welche vereitelt wurden und einmal dabei, gab es kein Zurück mehr. Nachdem wir noch eingehend über den Stand der Wiener Bewegung gesprochen, und ich ihm dabei vor Augen geführt, wie uns gerade jetzt eine Tat wie in Stuttgart unberechenbaren Schaden zufügen würde, versprach er mir, selbst nichts derartiges zu unternehmen, und sollte Stellmacher nachkommen, wie derselbe beabsichtige, so wolle er dafür sorgen, daß derselbe erst mit mir zusammen komme, denn er habe einen ›sehr dicken Schädel‹. Auf seine Frage nach einer passenden Wohnung empfahl ich ihn an einen anderen Genossen, der das besser besorgen könne. Im Falle er mir noch Mitteilungen zu machen habe, gab ich ihm eine Adresse, wo wir uns ungestört treffen könnten, er brauche blos Zeit und das Wort ›Schutzzoll‹ schreiben. Damit nahm er Abschied und ging ruhig wie ein Kind von dannen, worauf [185] ich ihn niemals wieder gesehen habe. Den mir gegebenen Auftrag an seine Eltern habe ich besorgt, und wie ich von dem Genossen, an den ich ihn empfohlen hatte, erfuhr, war er einige Tage später nach Mähren gereist und hatte da Arbeit genommen.«
Daten
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Josef Peukert (1855–1910): Erinnerungen eines Proletariers aus der revolutionären Arbeiterbewegung. Berlin: Verlag des Sozialistischen Bundes 1913, S. 182–185. – Josef Peukert schreibt zwar, dass diese Begegnung mit dem Buchbindergehilfen Anton Kammerer (1862–1884) »nicht ganz eine Woche nach dem Schusse in Floridsdorf« (S. 181) stattgefunden habe, doch muss diese tatsächlich einen Tag nach dem Attentat, also am 16. Dezember 1883 erfolgt sein, jenem Tag, an welchem Anton Kammerer Wien Richtung Mähren verließ, um erst am 7. Jänner 1884 nach Wien zurückzukehren. Josef Peukerts Version der Ereignisse lässt sich anhand der vorhandenen Quellen nur teilweise belegen, und man muss bedenken, dass er diese Erinnerungen nach seinen heftigen Auseinandersetzungen mit Johann Most (1846–1906) niederschrieb. Auch wenn Hermann Stellmacher (1853–1884) zum Zeitpunkt der Attentate längst im Widerstreit mit Johann Most stand, blieb er für Josef Peukert doch ein Parteigänger Mosts.