Sigmund Engländer (1823–1902)

Persönliche Daten
Namensvarianten
das ist Selligman Engländer
später auch: Sigmund Englander
tschechische Namensform: Zikmund Engländer
Pseudonym: Mundi Engländerl
Pseudonym: Siegmund Engländer
Geburtsdatum
8. März 1823
Sterbedatum
30. November 1902
Religionsbekenntnis
israelitisch, dann Church of England
Adressen

Vater: Hermann Engländer (Trebitsch, Mähren [Třebíč, Tschechien] Jänner 1786 – Wien 16. Dezember 1864): Professor der hebräischen und chaldäischen Sprache, Korrektor und Inhaber der Niederösterreichischen und orientalischen Landschafts-Buchdruckerei und Schriftsteller; Heirat in Trebitsch (Mähren [Třebíč, Tschechien]) am 13. Februar 1810 mit:
Mutter: Ludmila Engländer, geborene Hirsch-Bauer; später: Leontine Engländer (Trebitsch, Mähren [Třebíč, Tschechien] 1782 – Wien 20. Mai 1873): Hausfrau
Bruder: Karl Engländer; später: Charles Englander; Künstlername: Karl Engl (Trebitsch, Mähren [Třebíč, Tschechien] 1811 – London, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Irland [England, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland] 1876): Musiker (Oboist)
Bruder: Leopold Simon Engländer (Trebitsch, Mähren [Třebíč, Tschechien] 1812 – Wien 26. September 1867): Gastwirt, 1848er-Revolutionär; konvertiert römisch-katholisch
Bruder: Jakob Engländer
Bruder: Adolf Karl Engländer (Trebitsch, Mähren [Třebíč, Tschechien] 1818 – Graz, Steiermark 14. Dezember 1899): Magister der Chirurgie und Pharmazie, Zahnarzt; konvertiert römisch-katholisch
Ehe: in Hastings (England) am 24. September 1860 mit Annie Holden (London, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Irland [England, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland] 1841 – Steyning, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Irland [England, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland] 1887) nach dem Ritus der Church of England
Sohn: Julius Sigmund Englander (London, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Irland [England, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland] 17. November 1860 – ?)

Biographie

Sigmund Engländer, der in einer strenggläubigen jüdischen Familie aufwuchs, kam mit seinen Eltern nach Wien, wo er an der Universität studierte und 1846 zum Doktor der Rechtswissenschaften promoviert wurde. Bereits seit 1843 als Schriftsteller tätig, publizierte er unter anderem in den Zeitungen »Oesterreichisches Morgenblatt« (Wien), »Sonntagsblätter« (Wien), »Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode« (Wien) und »Der Humorist« (Wien). Sigmund Engländer lernte im Dezember 1846 den ein Jahr zuvor nach Wien gekommen Schriftsteller Friedrich Hebbel (1813–1863) persönlich kennen, dem er als Sekretär und Laufbursche bis 1848 eng verbunden blieb. Im Juni 1848 kam es zum Bruch zwischen beiden; erst 1854 und erneut 1857 nahmen sie wieder brieflichen Kontakt miteinander auf, und 1862 trafen sie sich in London (England). Seit Mai 1847 gab Sigmund Engländer die literarische Zeitschrift »Der Salon« (Wien) heraus. Nach der März-Revolution, 13. und 14. März 1848, gehörte Sigmund Engländer zum Mitunterzeichner des am 15. März 1848 erschienenen Flugblatts »Manifest der Schriftsteller Wiens«, in welchem neunundzwanzig Schriftsteller die Pressefreiheit forderten. Im April 1848 kurzzeitig Redakteur des konservativen Organs »Constitutionelle Donau-Zeitung« (Wien), wurde Sigmund Engländer am 10. April 1848 Mitglied eines Komitees zur Beratung über ein zeitgemäßes Pressegesetz, dessen Ergebnisse die provisorischen Verordnungen vom 18. Mai 1848 waren. Er gehörte auch der Wiener Bürger- und Studenten-Deputation an, die am 22. April 1848 nach Pest [zu Budapest] (Ungarn) abging. Auch war er Mitbegründer des am 17. Mai 1848 gegründeten »Demokratischen Clubs«, der sich seit Juli 1848 im Lokal von Sigmund Engländers Bruder Leopold Engländer (1812–1867) traf. Und Sigmund Engländer nahm am Slawenkongress teil, der vom 1. bis 12. Juni 1848 in Prag (Böhmen [Praha, Tschechien]) tagte, und auf dem unter anderem der Philosoph, Publizist und Revolutionär Michail Alexandrowitsch Bakunin ‹Михаил Александрович Бакунин› (1814–1876), zu dieser Zeit noch Panslawist und radikaler Demokrat, seine berühmte Rede hielt.1 Hatte sich Sigmund Engländer bislang vor allem als junges Dichtertalent sowie als viel beachteter Literatur- und Kulturkritiker in Wien einen Namen gemacht, positionierte er sich nun zunehmend als demokratischer, radikal-liberaler Schriftsteller. Natürlich wurde er deshalb von konservativen und monarchistischen Kreisen, aber auch von bürgerlich-revolutionären Konkurrenten immer wieder heftig angegriffen, nicht zuletzt wegen seiner jüdischen Religionszugehörigkeit. Besonderes Aufsehen erregte er als verantwortlicher Schriftleiter der von ihm gegründeten Zeitung »Wiener Katzen-Musik« (Wien), die vom Juni bis Oktober 1848 erschien. Bereits am 7. Juli 1848 erhob das k. k. nieder-österreichische Landrecht als provisorisches Pressgericht wegen eines Artikels in dieser Zeitung Anklage gemäß provisorischem Pressegesetzt vom 18. Mai 1848 gegen Sigmund Engländer und seinen Mitstreiter Willi Beck (1822–1862) wegen Beleidigung der Familie von Schloißnig. Es sollte dies der erste Presseprozess seit Beginn der Revolution werden, der aber am 8. August 1848 mit einer Rücknahme der Anklage endete. Mit der vom August bis Oktober 1848 erschienenen Zeitung »Die Reform« (Wien) gründete Sigmund Engländer ein weiteres politisches Organ. Am 4. September 1848 wurde Sigmund Engländer neuerlich wegen Beleidigung der Familie von Schloißnig in einem Artikel in seiner Zeitung »Wiener Katzen-Musik« (Wien) des Pressevergehens angeklagt, jedoch freigesprochen. Aber schon am 11. September 1848 stand er wieder vor dem provisorischen Pressgericht, diesmal über Aufforderung des Kriegsministeriums. Der Beleidigung von Feldmarschall-Leutnant Alfred I. zu Windisch-Graetz (1787–1862) und des Militärs durch einen Artikel in seiner Zeitung »Wiener Charivari. Katzenmusik« (Wien) angeklagt, wurde er zu drei Tagen einfachem Arrest verurteilt. Sigmund Engländer, der vom 25. bis 27. September 1848 seine Strafe absaß, wurde im Zuge der Niederschlagung der Revolution am 31. Oktober 1848 auf die Liste jener zwölf auszuliefernden Personen gesetzt, welche Alfred I. zu Windisch-Graetz zur Bedingung für die kampflose Übergabe der Stadt Wien gemacht hatte. Rechtzeitig gewarnt, gelang Sigmund Engländer Ende Oktober 1848 die Flucht aus Wien, versteckt in einer Butte unter Wurst- und Fleischwaren.

Sigmund Engländer flüchtete zunächst nach Leipzig (Sachsen). Hier gründete er im Jänner 1849 gemeinsam mit den ebenfalls aus Wien geflüchteten revolutionären Journalisten Sigmund Kolisch (1816–1886) und Gustav von Frank (1807–1860) die Zeitung »Die Wiener Boten« (Leipzig). Doch schon Ende Jänner 1849 erhielt Sigmund Engländer die Anweisung, Leipzig binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen.

Weil Österreich seine Auslieferung verlangte, begab sich Sigmund Engländer sicherheitshalber nach Paris (Frankreich), wo er mit Unterstützung von Paul Julius Reuter (1816–1899) 1849 bis 1850 die lithografierte »Correspondence« (Paris; Korrespondenz) herausgab, eine Zusammenstellung von Zeitungsauszügen. Sigmund Engländer arbeitete anschließend für die Nachrichtenagentur »Correspondance Havas«. Im August 1851 traf er Heinrich Heine (1797–1856), mit dem er fortan engen Kontakt hielt. Wohl um diese Zeit wandte sich Sigmund Engländer von seinen radikal-liberalen Ansichten ab und als deklarierter Gegner von Karl Marx (1818–1883) anarchistischen Ideen zu. Bezeichnend ist der Titel seines – verschollenen – Romanmanuskripts »Der Egoist«, welches er dem kranken Heinrich Heine im Winter 1851/1852 an mehreren Abenden vorlas. In der Nacht auf den 3. September 1851 wurde Sigmund Engländer verhaftet, der Mitgliedschaft bei der geheimen Gesellschaft »Deutsches Comité« und des Komplotts gegen die Sicherheit des Staats beschuldigt und in das im Vorjahr gegründete Gefängnis von Mazas in Paris eingeliefert, jedoch am 6. Oktober 1851 ohne Anklageerhebung wieder freigelassen, allerdings anschließend aus Frankreich ausgewiesen. Hinter der Ausweisung vermuteten Sigmund Engländers politische Gegner, dass er ein französisch-russischer Doppelspion gewesen sei, was jedoch nie bewiesen wurde.

Sigmund Engländer emigrierte nun nach London (England), wo er zunächst als Journalist und Auslandskorrespondent mehrerer Zeitungen sowie vorübergehend auch als Herausgeber des Exilorgans »Londoner Deutsche Zeitung« (London) tätig war. 1858 wurde Sigmund Engländer leitender Mitarbeiter der im Oktober 1851 von Paul Julius Reuter in London gegründeten Nachrichtenagentur »Reuter’s Telegramm Company«. Hier war er vor allem mit der Übersetzung von Meldungen beschäftigt. Der zur Church of England konvertierte Sigmund Englander, wie er sich nun nannte, heiratete – angeblich unter dem Druck von Paul Julius Reuters Ehefrau Ida Maria Reuter (~1826–1911) – am 24. September 1860 Annie Holden (1841–1887), mit der er den Sohn Julius Sigmund Englander (1861–?) hatte, benannt nach seinem Freund Paul Julius Reuter. Die Ehe hielt aber nicht sehr lange. Neben seiner Tätigkeit als Pressekorrespondent verfasste Sigmund Engländer historische Artikel und vor allem seine 1862 begonnene »Geschichte der französischen Arbeiter-Associationen« seit der Französischen Revolution 1789, zugleich aber auch eine Geschichte der 1848er-Revolution, ökonomisch beeinflusst von Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865) und weltanschaulich von Max Stirner (1806–1856).  »Die einzig sociale Wahrheit«, fasste Sigmund Engländer sein anarchistisches Konzept zusammen, »liegt im Individuum. Der Egoismus muß zum Princip erhoben werden, wir müssen Alle Egoisten werden, jeden heuchlerischen Gedanken an ein Collectiv-Interesse aufgeben. Nur dadurch gelangen wir zur wahren Freiheit und Brüderlichkeit. Jede Partei ist unser Unglück, weil jede die Regierungsgewalt anstrebt. Das allgemeine Stimmrecht ist nicht die Volkssouveränität, sondern durch dasselbe tritt das Volk seine Souveränität ab und verliert seine Freiheit.«2 Inzwischen beschäftigte man sich auch in Sigmund Engländers Heimat mit den ins Exil vertriebenen Revolutionären von 1848. Am 4. Juni 1867 überreichten mehrere niederösterreichische Landtagsabgeordnete dem Reichsrat eine Petition zur Amnestierung der 1848 politisch kompromittierten, in der Verbannung verweilenden vormaligen Reichstagsabgeordneten. Auf der beigefügten Liste befand sich auch der Name des in London lebenden Schriftstellers Sigmund Engländer. Dieser blieb aber auch nach seiner am 20. Juni 1867 erfolgten Amnestie in London. Wie wenig damals in Österreich über Sigmund Engländer bekannt war, zeigt das im Zuge der Amnestierung aufgetauchte Gerücht, dass dieser eigentlich ein gewisser »Dr. Hollander« sei, Redakteur der Zeitung »La Situation« (Paris). 1888 begab sich Sigmund Engländer im Auftrag von Julius Reuter nach Konstantinopel ‹قسطنطينيه› (Osmanisches Reich [Istanbul ‹İstanbul›, Türkei]), bereiste danach mehrere Länder Europas und ließ sich dann in Brighton (England) nieder. 1894 trat Sigmund Engländer in den Ruhestand. Er starb vereinsamt und mittellos in Turin ‹Torino› (Italien).

Sigmund Engländer, heute weitgehend vergessen, ist meist nur als enger Freund des Schriftstellers Friedrich Hebbel und als Herausgeber der Zeitung »Wiener Charivari. Katzenmusik« (Wien) bekannt. Er kann aber als erster aus Österreich stammender Anarchist bezeichnet werden, der mit einer deutschsprachigen anarchistischen Buchpublikation an die Öffentlichkeit getreten ist.

Adressen

  • Trebitsch, Mähren [Třebíč, Tschechien], Trebitsch 14 (Geburtsadresse)
  • Wien 1., Stadt 496 [Dreifaltigkeitshof, Judengasse 8] (1848)

Bücher und Broschüren

  1. Geschichte der französischen Arbeiter-Associationen von Sigmund Engländer. 4 Theile. Hamburg: Hoffmann und Campe 1864, 4 Bände:
    1.: Erster Theil. 1864, 306 S.
    2.: Zweiter Theil. 1864, 347 S.
    3.: Dritter Theil. 1864, 364 S.
    4.: Vierter Theil. 1864, 304 S.
  2. The abolition of the State. An historical and critical sketch of the parties advocating direct government, a federal republic, or individualism. By Dr. S. Engländer. London: Trübner & Co. & Ludgate Hill 1873, 183 S. Das Werk ist im Wesentlichen eine Kurzfassung seiner »Geschichte der französischen Arbeiter-Associationen«. Englisch: Die Abschaffung des Staats. Ein historischer und kritischer Abriss der Parteien, die für eine direkte Regierung, eine föderative Republik oder Individualismus eintreten.
    A) L’abolizione dello Stato. Cenno storico-critico dei partiti del governo diretto, repubblicano federalista, e individualista. Versione dall’inglese di F. S. Merlino. Milano: C. Bignami e C. ed. 1879 (= Biblioteca de 1 lira al volume.), XXIV, 176 S. Erschien unter dem Autorennamen »S. Englander«. Italienische Übersetzung von Francesco Saverio Merlino (1856–1930).

Zeitungen und Zeitschriften

  1. Der Salon. Mittheilungen aus den Kreisen der Literatur, Kunst und des Lebens. Unter Mitwirkung geachteter Schriftsteller herausgegeben von Sigm[und] Engländer (Wien), 1.3. Theil (1847), Herausgeber.
  2. Constitutionelle Donau-Zeitung. Haupt-Redacteur C[arl] Ferdinand Hock (Wien), 1.15. April 1848, Redakteur.
  3. Wiener Katzen-Musik. (Charivari.) Politisches Tagsblatt für Spott und Ernst mit Carricaturen. Verantwortlicher Kapellmeister: Sigm. Engländer. Verantwortlicher Orchester-Director: Willi Beck (ab Nr. 12 (30. Juni 1849): Wiener Katzen-Musik. (Charivari.) Politisches Tagsblatt für Spott und Ernst mit Karrikaturen. Verantwortlicher Kapellmeister: Sigm. Engländer. Verantwortlicher Orchester-Director: Willi Beck; ab Nr. 39 (2. August 1848): Wiener Charivari. Katzenmusik. Politisches Tagsblatt für Spott und Ernst mit Karrikaturen. Verantwortlicher Redakteur: Sigm. Engländer. Verantwortlicher Mitarbeiter: Willi Beck.) (Wien), [1]. Jg. (9. Juni 184827. Oktober 1848), 108 Nummern, Schriftleiter und Herausgeber. Beilagen: Satyros (Wien), [1]. Jg. (1848); Gegengift für typographische Reaktionäre (Wien), [1]. Jg. (1848).
  4. Die Reform. Politisch-sociales Tagsblatt (ab Nr. 11: Die Reform. Politisch-sociale Zeitung). Hauptredacteur: Sigmund Engländer (Wien), [1]. Jg. (16. August 1848–25. Oktober 1848), 55 Nummern, Hauptredakteur.
  5. Die Wiener Boten. Deutsche Wochenschrift für Politik und Literatur. Herausgegeben von [Sigmund] Kolisch, [Gustav von] Franck und [Sigmund] Engländer (Leipzig), 1. Jg. (1849), 13 Nummern, Herausgeber; ab Nr. 14 von Otto Wigand (1795–1870) herausgegeben.
  6. Correspondence (Paris), [1.–2.] Jg. (18491850), Herausgeber. Französisch: Korrespondenz.
  7. Londoner Deutsche Zeitung. Blätter für Politik, Literatur und Kunst (London), [7.] Jg. (1851), Herausgeber.
Karte
  • 1

    Vgl. Michael Bakunin [d. i. Michail Alexandrowitsch Bakunin ‹Михаил Александрович Бакунин› (1814–1876)]: Aufruf an die Slaven. Von einem russischen Patrioten. Köthen [recte Leipzig]: Selbstverlag des Verfassers [recte Slawische Buchhandlung Ernst Keil] 1848, 35 S.

  • 2

    Sigmund Engländer: Geschichte der französischen Arbeiter-Associationen. Zweiter Theil. Hamburg: Hoffmann und Campe 1864, S. 198.