Das Ende der Unabhängigen Socialisten. 1895 bis 1896

Die Situation der Unabhängigen Socialisten begann zunehmend schwieriger zu werden, wie sich der Schneidermeister Matthias Pestiček (1864–1943) erinnerte: »Einerseits setzten die Behörden der Monarchie mit den infamsten Schikanen ein, andererseits litt der Verein [d. i. Arbeiter-Bildungs- und Unterstützungs-Verein in Graz; R. M.] unter dem wüst-fanatischen Treiben der Sozialdemokratie, die durch gewaltsame Störung der vom Verein einberufenen Versammlungen, durch Lokalabtreibungen und sonstige Unwürdigkeiten die Aktivität des Vereines zu unterbinden trachtete.«1 Dies galt zweifelsohne nicht nur für die hier genannte Kernorganisation der Unabhängigen Socialisten in der Steiermark, sondern auch für den am 14. Juli 1896 behördlich aufgelösten Wiener »Politischen Verein ›Zukunft‹«, der im Jänner 1895 hundertdrei Mitglieder zählte. Die Zeitung »Die Zukunft« (Wien) ist voll von Berichten über teils handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen Unabhängigen Socialisten und Sozialdemokraten. Auch wurde von bürgerlicher wie sozialdemokratischer Seite immer wieder die Gleichsetzung von »Anarchismus = Terrorismus« betrieben, was die Selbstbezeichnung der Anarchisten als Unabhängige Socialisten oder Anti-Autoritäre förderte sowie deren wiederholte Distanzierung vom Terrorismus erforderte. Typisch ist die öffentliche Erklärung von August Krčal (1860–1894) im April 1893: »Ich bin weder ein Socialdemokrat noch ein Dynamiter, der mit Bomben in der einen und Revolvern in der andern Tasche ausgerüstet, in Socialismus macht. Ich bin ein anti-autoritärer Socialist!«2

Aber nicht die Kämpfe der Sozialdemokraten gegen die Anarchisten – sie zeugen von der Bedeutung, die man in sozialdemokratischen Kreisen der anarchistischen Bewegung damals beimaß – haben die Bewegung der Unabhängigen Socialisten zerstört, sondern die systematische behördliche Verfolgung, welche allerdings von Sozialdemokraten hingenommen wurde, bisweilen sogar unter deren politischer Patronanz durchgeführt worden ist. Die permanenten Beschlagnahmungen und die Verfolgung der Herausgeber und Redakteure der Zeitung »Die Zukunft« durch Polizei und Justiz führten im Mai 1896 dazu, dass die Zeitung ihr Erscheinen endgültig einstellen musste. Die systematische behördliche Verfolgung der Agitatoren und Propagandisten der Unabhängigen Socialisten sowie die behördliche Zerschlagung ihrer wichtigsten Organisationen schwächten die 1892 bis 1894 erstarkende anarchistische Bewegung Mitte der 1890er-Jahre derart, dass sie keine Ernst zu nehmende Konkurrentin der Sozialdemokratie innerhalb der österreichischen Arbeiterbewegung mehr werden konnte. Beruhigt stellte die Polizeidirektion Wien für 1896 fest: »Eine anarchistische Bewegung trat im Berichtsjahre eigentlich nur in Böhmen hervor. […] In Wien liegen die beiden Parteien, der Deutschen und der Čechen, vollständig darnieder. Mit dem Eingehen des Parteiblattes ›Die Zukunft‹ und mit der 1896 erfolgten behördlichen Auflösung des gleichnamigen politischen Vereines wegen Überschreitung des statutenmäßigen Wirkungskreises stellten die wenigen deutschen Anarchisten ihre Parteithätigkeit ganz ein. Die Čechen zählen noch über eine kleine Gemeinde, welche sich um drei Vereine, den Verein ›Volnost‹ im XV. Bezirke, den Verein ›Rovnost‹ im X. Bezirke und den Verein ›Pokrok‹ im II. Bezirke gruppirt. Von diesen Vereinen werden zeitweise Versammlungen und gesellige Abende veranstaltet, welche meist sehr schwach besucht sind. Der rührigste Agitator ist Johann Opletal, der Herausgeber und Redacteur der ›Matice delníčka [!]‹, welches Blatt in Neu-Bydžov [Nový Bydžov, Tschechien; R. M.] in Böhmen im Drucke erschienen ist. […] In Graz wurde der schon seit Jahren in der anarchistischen Bewegung stehende Schuhmachergehilfe Johann Hospodsky wegen des Inhaltes dreier Reden, die er als Mitglied des ›Steiermärkischen Arbeiterbund‹ in Versammlungen desselben gehalten hatte, nach §. 305 St. G. zu einer viermonatigen Arreststrafe verurtheilt. Infolge dieser Verurtheilung wurde der genannte Verein wegen Überschreitung des statutenmäßigen Wirkungskreises behördlich aufgelöst. Es wurde damit der Hauptagitationsherd der anarchistischen Partei in Graz vernichtet und ist seitdem ein Rückgang in der anarchistischen Propaganda daselbst wahrnehmbar gewesen.»3

Dennoch darf die Bewegung der Unabhängigen Socialisten in ihrer Bedeutung für den Anarchismus in Österreich nicht unterschätzt werden. Sie hatte etwas geschaffen, dessen sie sich bereits Ende 1894 rühmte: »Die meisten unserer Genossen waren seinerzeit [1892; R. M.] Anhänger des Demokratismus, und von diesem Princip zu befreien und durch den so viel geschmähten Anarchismus zu ersetzen, ist ein gutes Stück Arbeit. Aber sie wurde besorgt, unbekümmert im reactionären Oesterreich. Der Grundstein zu einer freiheitlichen Bewegung ist in Oesterreich gelegt; es war vielleicht die schwierigste Aufgabe, und dessen Weiterentwicklung werden die Vertreter des Anarchismus besorgen. Darin liegt der Kernpunkt des Erfolges, der nie und nimmer streitig gemacht werden kann.«4

 

Autor: Reinhard Müller
Version: Juli 2025
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Daten
von
1895
bis
1896
  • 1

    Matthias Pestischek [d. i. Matthias Pestiček (1864–1943)] / Gustav Kern (1883–1945): Zur Erinnerung, in: Erkenntnis und Befreiung (Wien), 6. Jg., Nr. 18 (4. Mai 1924), S. 4.

  • 2

    A. K. [d. i. August Krčal (1860–1894)]: Von meiner Agitationsreise, in: Die Zukunft (Wien), 1. Jg., Nr. 18 (13. Mai 1893), S. 2.

  • 3

    [Anonym]: Die socialdemokratische und anarchistische Bewegung im Jahre 1896. Wien: Druck der kaiserlich-königlichen Hof- und Staatsdruckerei 1897, S. 58–59. Diese von der Polizei jährlich verfassten Berichte wurden nur für den internen Gebrauch gedruckt und kamen nicht in den Buchhandel.

  • 4

    [Anonym]: »Die Zukunft«. (Zum III. Jahrgange.), in: Die Zukunft (Wien), 3. Jg., Nr. 1 (14. Dezember 1894), S. 1–2, hier S. 1.