02.04.01. Josef Peukert: Die Merstallinger-Affäre in Wien am 4. Juli 1882
Josef Peukert (1855–1910)
Die Merstallinger-Affäre in Wien am 4. Juli 18821
Eines Tages brachte die gesamte Tagespresse den sensationellen Bericht über einen verwegenen Raub an dem Schuhmachermeister Merstallinger. Derselbe stand bei den Arbeitern in schlechtem Rufe wegen seiner Ausbeutungssucht und Habgier. Er war in seinem Geschäft chloroformiert, seine Kasse erbrochen und beraubt worden. Niemand regte sich sonst sonderlich darüber auf. Auch ich schenkte der Sache weiter keine Beachtung. Erst einige Wochen später wurde ich von Hotze ersucht, mit ihm zu gehen, um einer [109] wichtigen Besprechung beizuwohnen. Wir gingen nach der »Schmelz«, wo wir noch die Genossen Mazur, Berndt und einen fünften, dessen Namen mir entfallen, trafen. Wir legten uns auf den Boden und Hotze berichtete, daß die Merstallinger Affäre von einer Gruppe Schreiner ausgeführt worden sei, aber den Erwartungen ganz und garnicht entsprochen habe. Man habe eine Beute von 20 bis 30 000 Gulden erwartet, statt dessen hätten die beiden Genossen Engel und Pfleger wohl eine Anzahl Wertpapiere, aber nur sehr wenig bares Geld gefunden, von diesem Gelde habe Engel in der Hast noch vier Hundertguldenscheine verloren, sodaß nur etliche Gulden (90) an Kleingeld übrig geblieben. Einige Schmuckgegenstände habe Berndt, den Rest Engel als Reisegeld nach Nordböhmen.
Obwohl, wie gesagt wurde, die Sache für die Propaganda unternommen worden, woran ich auch keinen Augenblick zweifelte, war ich dennoch auf das Peinlichste berührt davon. Denn erstens war die Kühnheit und Kaltblütigkeit, mit welcher der Coup ausgeführt worden war, einer besseren Sache wert, und zweitens, da ich die beiden Täter nicht kannte, befürchtete ich einen großen Schlag gegen unsere Bewegung, falls die beiden nicht sehr charakterfeste Männer seien. Befragt, was ich davon denke, sprach ich meine Meinung in diesem Sinne aus und bestand darauf, daß sofort alle Wertpapiere und Schmuckgegenstände vernichtet werden sollten, um nicht zum Verrat zu führen. Geschehenes sei nicht ungeschehen zu machen, aber man solle wenigstens alles tun, um verhängnisvollen Folgen für die Bewegung vorzubeugen, im Uebrigen wollte ich weiter nichts mit der Geschichte zu tun haben. Damit waren alle einverstanden und demnach sollte gehandelt werden. Hotze, den ich gut kannte, war von Charakter so lauter wie Gold; Berndt, den ich nicht genug kannte, hatte wiederholt Proben von Opferwilligkeit und Festigkeit gegeben; die andern beiden, die man, wie mich, erst den Abend ins Vertrauen gezogen, waren so [110] sicher wie Hotze, und so glaubten wir an keine weitere Gefahr.
Es kam aber doch ganz anders. Kurze Zeit darauf sagte mir Hotze, er fühle, daß ihm der Boden zu heiß unter den Füßen werde; wahrscheinlich habe Engel zu viel unter seinen Kollegen geplaudert und es werde zu viel gemunkelt. Er (Hotze) habe noch die drei Monate wegen Teilnahme an dem Mürzzuschlag-Kongreß abzusitzen, könne aber keinen Strafaufschub mehr bekommen.7) So sitze er in der Klemme. Er wollte es noch ein letztes Mal beim Staatsanwalt versuchen, Aufschub zu kriegen, wenn nicht, müsse er fort, ehe es zu spät sei.
Zur selben Zeit mußte ich auf eine kleine Landarbeit nach Mähren. Als ich zwei Wochen später zurückkam, es war gerade Sonntag, begegnete ich verschiedenen Trupps Genossen, die von einer Versammlung kamen und mich frugen; »Ob ich schon wisse, Hotze sei mit der Parteikasse (andere sagten Tischlerkasse) durchgebrannt?[«] – Ich dachte mir gleich, um was es sich handelte, und sagte jedem, sie sollten doch nicht solchen Unsinn glauben. Dann nahm mich einer, den ich garnicht kannte, auf die Seite, um mir zu sagen, wie sehr er in Gefahr sei, und ob ich ihm nicht helfen könnte fortzukommen. Ich verstand garnicht recht, was er meinte und suchte ihn zu beruhigen, endlich kam ich los und setzte meinen Weg nach Hause fort. Unterwegs kam mir erst der Gedanke, ob das nicht der Pfleger gewesen sein möge? –
Zu Hause gelangt – ich wohnte bei einem Genossen in der Kasernengasse2 – traf ich ebenfalls eine Anzahl Genossen, die sich in allen möglichen Verdächtigungen und unmöglichen Behauptungen gegen Hotze ergingen. Da fuhr ich denn ganz entrüstet wie ein Donnerwetter dazwischen, sie sollten sich schämen, wie alte Weiber über böswilligen Klatsch sich zu ereifern und einen ehrenhaften Genossen zu begeifern. Es sei weder Geld in der Parteikasse noch in der Tischlerkasse, mit welchem [111] er »durchbrennen« könne; das Ganze sei sicherlich nur von der Polizei aufgebracht, um Aufregung und Konfusion in unsere Reihen zu bringen und dabei im Trüben fischen zu können; das sollten sie lieber jedem erklären, der mit solchem Gewäsch komme. Das half, die Aufregung legte sich bald. Zur Vorsicht ging ich noch am selben Abend nach der Wohnung von Hotze, um mich zu vergewissern, wie sich die Sache verhalte. Ich fand Frau Hotze in großer Aufregung, da sie mit ihren vier Kindern allein, ohne Mittel und in großer Sorge um die Sicherheit ihres Gatten war. Mein Besuch war ihr eine Wohltat, da sie ihr Herz erleichtern konnte. Sie erzählte mir, daß Hotze trotz aller Bemühungen keinen Strafaufschub erhalten und seine Strafe den nächsten Tag antreten sollte. Die Munkeleien unter den Kollegen über die Merstallinger Affäre seien immer deutlicher geworden, sodass, wenn er einmal »sitze«, auch kein Entkommen mehr sei. Er habe vergebens bei Verwandten und Freunden versucht, Geld für die Flucht aufzubringen, nachdem aber alle Versuche fehlgeschlagen, habe er die in seiner Verwaltung befindlichen 96 Gulden Kleingeld von Merstallinger genommen und sei abgereist, um nach Amerika zu kommen. Er habe dieses Geld aber erst dann genommen, als ihm kein anderer Ausweg übrig blieb. Das war zweifellos alles wahrheitsgemäß, und ich konnte ihm seine Handlungsweise garnicht verdenken, obwohl es galt, darüber zu schweigen. Uebrigens konnte das Unheilsgeld auch gar keine bessere Verwendung finden, denn, wie sich einige Wochen später zeigte, machte die Oesterreichische Regierung alle Anstrengungen, Hotze – der inzwischen glücklich nach New York gekommen war – wieder zurück zu bringen. Die Vereinigte Staaten-Regierung war aber zum Glück noch nicht so reaktionär wie heute.
- 1
Josef Peukert (1855–1910): Erinnerungen eines Proletariers aus der revolutionären Arbeiterbewegung. Berlin: Verlag des Sozialistischen Bundes 1913, S. 108–111.
- 2
Recte Kaserngasse. Anmerkung Reinhard Müller.