Franziska Tyll (1804–1892)
Persönliche Daten
Familienverhältnisse
Ehe: mit Adalbert Tyll (? – Poszony / Preßburg, Ungarn [Bratislava, Slowakei] 3. Juni 1869): Major
Biographie
Franziska Tyll war Inhaberin einer Putzwarenhandlung in Wien und stand als vorgesehenes Opfer im Mittelpunkt der so genannten Tyll-Affäre.
Am 3. August 1885 fand in Obermeidling (Niederösterreich [zu Wien 12.]) die so genannte Tyll-Affäre statt, an der vier Radicale beteiligt waren. Nach einem gescheiterten Versuch am 18. Juni 1885 bildeten vier Radicale neuerlich eine »Polizei-Kommission« und nahmen gegen 20 Uhr 45 bei der reichen, Majorswitwe Franziska Tyll (1804–1892) in Obermeidling, Schönbrunner Hauptstraße 150, Inhaberin einer Putzwarenhandlung, eine »Visitation« vor. Der Schuhmachergehilfe Johann Hospodský (1863–?) in der Uniform eines Polizeikommissärs wurde von drei »Polizei-Detektiven« in schwarzer Kleidung mit schwarz-gelben Kokarden begleitet: vom Metallschleifer Franz Czermak (1863–?), vom Drechslergehilfen Heinrich Höfermayer (1862–?) und vom Webergehilfen Franz Schustaczek (1850–1908). Bis auf Johann Hospodský waren alle mit Revolvern und Dolchen bewaffnet, versteckt bei sich tragend, aber ohne sie einsetzend. Vor der Tür standen der Schneidergehilfe Albert Friedmann (1866–?) und der Schuhmachermeister Karl Schwehla (1851–1897) Schmiere. Johann Hospodský wies einen »polizeilich besiegelten« Befehl vor, der ihn befuge, die Kasse Franziska Tylls wegen im Umlauf befindlichen Falschgelds einer Revision zu unterziehen und das »Falschgeld« zu konfiszieren. Die Hausbesitzerin ließ dem »Polizeikommissär« Johann Hospodský bereits das Geld in ihrer Kasse, 470 Gulden in Banknoten, überprüfen. Als die »Kommission« gerade das Geld, gegen den Willen Franziska Tylls, konfiszieren wollte, traten die Ziehtochter der Hausbesitzerin, die Postbeamtenehefrau Johanna Reibl, und die Köchin Anna Schrimpf ein, weil sie den Vorgang von einem Nebenzimmer aus beobachtet hatten und ihnen aufgefallen war, dass einer der »Polizei-Detektive«, nämlich Franz Czermak, einen falschen Bart trug. Franziska Tyll und Johanna Reibl verweigerten daraufhin die Herausgabe des Gelds, es kam zu einem kleinen Handgemenge, und die Frauen drohten, einen Sicherheitswachmann zu rufen. Mit dem Hinweis »Morgen werden Sie eine Zustellung bekommen« entfernten sich daraufhin die Mitglieder der »Polizei-Kommission« rasch. Auch die vor der Tür stehenden Aufpasser Albert Friedmann, der auch die Uniform samt Amtskappe und Degen organisiert hatte, sowie Karl Schwehla flüchteten. Kurzfristig wurde von der Polizei auch eine sozialrevolutionäre Aktion in Betracht gezogen. Schließlich ging sie aber von einem Verbrechen kurioser Natur aus, weil es ähnliche Vorfälle gegeben hatte.
Es dauerte lange, bis die Polizei den Tätern der so genannten Tyll-Affäre auf die Spur kam. Im Zuge der so genannten Brandleger-Affäre vom 3. und 4. Oktober 1886 holte die Polizei nach wochenlangen Beobachtungen zum großen Schlag gegen die Wiener Sozialrevolutionäre aus. Noch in der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober 1886 konnten acht Sozialrevolutionäre verhaftet werden, und innerhalb der nächsten Woche folgten weitere sieben. Im Zusammenhang mit der so genannten Tyll-Affäre wurden Albert Friedmann, Johann Hospodský und Franz Schustaczek verhaftet. Heinrich Höfermayer und Karl Schwehla waren bereits als Beteiligte an der so genannten Brandleger-Affäre inhaftiert.
Vom 21. bis 28. März 1887 fand vor dem Landes- als Ausnahmsgericht Wien der große so genannte Anarchisten-Prozess gegen siebzehn Sozialrevolutionäre statt. Verhandelt wurden die so genannte Reich-Affäre vom 18. Juni 1885, die so genannte Tyll-Affäre vom 3. August 1885, die so genannte Dynamit-Affäre vom 14. März 1886, die so genannte Linke-Affäre vom März 1886, die so genannte Trostler-Affäre vom April 1886 und die so genannte Brandleger-Affäre vom 3. und 4. Oktober 1886. Der Prozess sollte ursprünglich in geheimer Verhandlung stattfinden, da aber jeder der fünfzehn Angeklagten drei Vertrauensmänner bestimmen konnte, wäre der geheime Charakter ohnedies hinfällig, so dass man sich zu einer öffentlichen Verhandlung entschloss; lediglich in der Verhandlung vom 25. März 1887 wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Wegen der so genannten Tyll-Affäre wurden Albert Friedmann, Heinrich Höfermayer, Johann Hospodský, Franz Schustaczek und Karl Schwehla des Verbrechens des teils vollbrachten, teils versuchten Betrugs angeklagt. Wegen versuchten und vollbrachten Betrugs wurden Heinrich Höfermayer und Karl Schwehla zu jeweils fünfzehn Jahren, Franz Schustaczek zu sechs und Johann Hospodský zu fünf Jahren schwerem Kerker, wegen Betrugs als unmittelbarer Täter und Mitschuldiger Albert Friedmann zu sechs Jahren schwerem Kerker verurteilt, bei allen verschärft mit einem Fasttag im Monat.
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Autor: Reinhard Müller
Version: Mai 2025
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