01.02. Das Intermezzo des Sozialdemokraten Johann Most in Österreich. 1868 bis 1871
Natürlich gab es schon früh Versuche von Handwerkern, sich zu organisieren, aber eine Arbeiterbewegung im eigentlichen Sinn bildete sich in Österreich – im Vergleich zu anderen europäischen Nationen – erst spät heraus. Am 1. Dezember 1867 fand im Etablissement »Universum« (Therese Hör) in der Brigittenau 80 (Niederösterreich [zu Wien 20., nahe der Taborstraße, heute Areal des Nordwestbahnhofes]), die erste allgemeine Arbeiterversammlung statt. Kurz darauf, am 15. Dezember 1867, wurde in »Schwender’s Colosseum« (Karl Albert Sachse) in Rudolfsheim (Niederösterreich [zu Wien 15.]), Fünfhauser Hauptstraße, Ecke Kirchengasse [Mariahilfer Straße, Ecke Reindorfgasse], der erste Arbeiterverein gegründet: der »Arbeiter-Bildungsverein« in Wien-Gumpendorf. 1868 folgte die Formierung derartiger Vereine in der Provinz, vor allem in Nieder- und Oberösterreich, in der Steiermark, in Kärnten und in Tirol. Dies war gleichsam der Beginn der organisierten Arbeiterbewegung in Österreich. Nicht nur die Vorbilder kamen aus Preußen und anderen deutschen Ländern, teilweise auch ihre in Österreich tätigen Aktivisten. Die sozialistische Arbeiterbewegung in Österreich wurde zunächst vor allem von Anhängerinnen und Anhängern des auf Selbsthilfe bauenden Sozialreformers Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883), dann von Parteigängern des Sozialdemokraten Ferdinand Lassalle (1825–1864) getragen. Bezeichnenderweise waren auch die Vertreter Österreichs auf den internationalen Kongressen der »International Working Men’s Association / Association Internationale des Travailleurs / Internationale Arbeiter-Association« (»Erste Internationale«) durchwegs Marxisten: erstmals auf dem Kongress in Basel / Bâle / Basilea (Kanton Basel-Stadt), 6. bis 11. September 1869, der Privatbeamte Ludwig Neumayr (1841–1890) und der Journalist Heinrich Oberwinder (1846–1914).
1868 kam auch ein Sozialdemokrat nach Wien, der später großen Einfluss auf die radicale Arbeiterbewegung sowie Anarchistinnen und Anarchisten in Österreich hatte: der Buchbindergeselle Johann Most (1846–1906).1 Erstmals bereiste er Österreich auf seiner Wanderschaft im Sommer 1864. Von Bayern kommend zog er durch Vorarlberg nach Innsbruck (Tirol), von dort nach Bozen (Tirol [Bolzano / Bozen, Italien]), Trient (Tirol [Trento / Trient, Italien]), Rofreit (Tirol [Rovereto / Rofreit, Italien]), weiter ins damals österreichische Venedig ‹Venezia› (Lombardo-Venetien [Italien]), anschließend nach Triest (Küstenlande [Trieste, Italien]), dann über die Städte Cilli (Steiermark [Celje, Slowenien]) und Marburg an der Drau (Steiermark [Maribor, Slowenien]) nach Graz (Steiermark), von hier nach Wien, weiter nach Linz an der Donau (Oberösterreich), Gmunden (Oberösterreich), Ischl [Bad Ischl] (Oberösterreich), Salzburg (Salzburg) und zurück nach Bayern. Von München (Bayern) ging es mit dem Floß die Isar und Donau neuerlich hinab nach Wien, von wo er über Brünn (Mähren [Brno, Tschechien]) und Prag (Böhmen [Praha, Tschechien]) weiter nach Breslau (Preußen [Wrocław, Polen]) reiste.
Im Sommer 1866 durchwanderte Johann Most, aus der Schweiz kommend, auf seinem Weg nach München (Bayern) neuerlich Tirol.
Das dritte Mal kam Johann Most, aus Zürich / Zurchich / Zurigo (Kanton Zürich) kommend, nach Österreich, wo er vom Oktober 1868 bis Mai 1871 in Wien lebte. Hier arbeitete er zunächst in einer Fabrik für Gesichtsmasken, wurde aber im Juni 1869 wegen eines Zeitungsberichts über Mosts Rede vom 31. Mai 1869 entlassen. Er fand danach Arbeit bei einem Buchbindermeister, verlor jedoch neuerlich wegen seiner politischen Aktivitäten seinen Arbeitsplatz. Nun wurde er auf die so genannte Schwarze Liste gesetzt, also in ein Verzeichnis für Unternehmerinnen und Unternehmer mit Personen, die sie wegen ihrer politischen Gesinnung nicht beschäftigen sollten. Most machte sich daraufhin selbstständig und produzierte in seinem Untermietzimmer in der Roßau in Wien 9. Hutschachteln, Zündholzbüchsen, Notizbücher, Zigarettenetuis und Ähnliches mehr. Most, der am 21. November 1869 in den Ausschuss des »Vereins der Gewerks-Genossenschaften für Buchbinder, Ledergalanterie-, Futteral-, Kartonnage-, Pappendeckel-, Pappearbeiter und Kartenmaler« gewählt wurde, hatte für seine berufliche Tätigkeit keine Gewerbeerlaubnis, weshalb er Anfang Jänner 1870 in Schwierigkeiten geriet. Da er zwei Monate später als Hochverräter verhaftet wurde, kam es in dieser Gewerbeangelegenheit zu keiner weiteren behördlichen Verfolgung.
Johann Mosts erstes Auftreten in der Wiener Arbeiterbewegung war als Schauspieler bei einem Theaterstück anlässlich des ersten Gründungsfests des »Arbeiter-Bildungsvereins« am 4. April 1869 in »Schwender’s Colosseum« (Carl Schwender jun.) in Rudolfsheim (Niederösterreich [zu Wien 15.]), Fünfhauser Hauptstraße, Ecke Kirchengasse [Mariahilfer Straße, Ecke Reindorfgasse]. Hier trat Most, nunmehr Mitglied des »Arbeiter-Bildungsvereins« und der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs«, in der von ihm verfassten Spektakelposse »Die Reise nach Amerika, oder: Das Wiedersehen« auf. Am 4. Mai 1869 – Most nennt in seinen Erinnerungen irrtümlich den 30. Mai – hielt er seine erste öffentliche Rede – vor mehreren tausend Arbeiterinnen und Arbeitern – auf einer Volksversammlung in »Zobel’s Bierhalle« (Franz Zobel) in Fünfhaus (Niederösterreich [zu Wien 15.]), Gasgasse 4–6 / Zwölfergasse 3–15, zur Tagesordnung »Das Koalitionsrecht und die Nationalitätenfrage«. Most wurde nun auch in der Provinz aktiv. So sprach er am 17. Mai 1869 auf der freien Volksversammlung im Gasthof »zur goldenen Birne« in Neunkirchen (Niederösterreich), Wienerstraße 14, zur Tagesordnung »1. Volksangelegenheiten; 2. Koalitionsrecht; 3. Steuerreform; 4. Arbeiter-Kranken- und Invalidenkasse«. Am 30. Mai 1869 folgte Mosts zweite Rede in Wien, diesmal vor rund zehntausend Arbeiterinnen und Arbeitern, unter freiem Himmel im Gastgarten »zur schönen Aussicht«, auch »zum Paradiesgarten« genannt, in Rudolfsheim (Niederösterreich [zu Wien 15.]), Felberstraße 2, zur Tagesordnung »Das allgemeine direkte Wahlrecht, die Pressefreiheit und das freie Vereins- und Versammlungsrecht«. Am 3. Juni 1869 sprach er auf einer Versammlung des »Demokratischen Vereins ›Fortschritt‹« in dessen Vereinslokal in Wien 8., Albertgasse 25, zum Thema »Das Koalitionsrecht« und am 6. Juni 1869 auf einer freien Versammlung der Heizer und Maschinenwärter im Gasthaus »zur goldenen Rose« (Franz Durstmüller) in Wien 10., Himberger Straße 31, über »Die sozialen Verhältnisse und die Krankenkassen«. Danach zog sich der mittlerweile entlassene Most vorübergehend nach Vöslau [Bad Vöslau] (Niederösterreich) zurück. Ende Juni 1869 trat er wieder als Redner in die Öffentlichkeit. Am 27. Juni 1869 las er Dichtungen auf dem ersten Gründungsfest des »Arbeiter-Bildungsvereins für Linz und Umgebung« in der Volkshalle in Linz an der Donau (Oberösterreich) und am 29. Juni 1869 sprach er auf der großen freien Volksversammlung im »Märzenkeller« (Jakob Hatschek und Filipp Hatschek) in Urfahr [zu Linz an der Donau] (Oberösterreich), Kellergasse 16, über »Das Koalitionsrecht der Arbeiter, die Abkürzung der Arbeitszeit und die Erhöhung der Löhne«. Nach diesem Aufsehen erregenden Auftritt Mosts kehrte er nach Wien zurück. Hier musste sich Most am 20. Juli 1869 – Most nennt in seinen Erinnerungen irrtümlich den 30. Juli – vor dem Landesgericht Wien anlässlich seiner Rede vom 30. Mai 1869 wegen Vergehens gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung verantworten. Er wurde im Sinne der Anklage zu drei Monaten scharfem Arrest verurteilt. In der Berufungsverhandlung reduzierte das Oberlandesgericht Wien am 10. August 1869 die Strafe auf einen Monat scharfen Arrest, den Most in Wien absaß. Nach seiner Freilassung nahm Most, mittlerweile ein anerkannter Arbeiterführer in Wien, seine agitatorische Tätigkeit wieder auf. So nahm er 1869 als sozialdemokratischer Verbindungsmann mehrmals an Kommersen der Wiener Burschenschaften teil. In der Monatsversammlung des »Arbeiter-Bildungsvereins« vom 30. August 1869 wurde Most zu einem von zehn Mitgliedern jener Kommission gewählt, die den Kongress der österreichisch-ungarischen Arbeitervereine vorbereiten sollte. Er nahm dann auch als Delegierter auf diesem geheimen Kongress in Pozsony / Preßburg (Ungarn [Bratislava, Slowakei]) am 14. November 1869 teil. Außerdem war Most wieder als Redner in diversen Versammlungen in Wien aktiv, etwa:
- 18. September 1869: freie Versammlung der Bäckergehilfen im Hotel »zum großen Zeisig« (Johann Höller), Wien 7., Burggasse 2, über Angelegenheiten der Bäckergehilfen;
- 4. Oktober 1869: allgemeine Volksversammlung der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs« in »Zobel’s Bierhalle« (Franz Zobel) in Fünfhaus (Niederösterreich [zu Wien 15.]), Gasgasse 4–6 / Zwölfergasse 3–15, zur Tagesordnung »1. Das allgemeine Wahlrecht und direkte Reichsratswahlen; 2. Allgemeine Angelegenheiten der sozialdemokratischen Partei«;
- 9. Oktober 1869: Versammlung der Waffenarbeiter im Ottakringer Brauhaus (Ignaz Kuffner und Jacob Kuffner) in Ottakring, Hauptstraße 91 (Niederösterreich [zu Wien 16., Ottakringer Straße 91], zur Tagesordnung »1. Gründung eines Fachvereins; 2. Die Aufhebung der Genossenschafts- und Fabrikkrankenkassen«;
18. Oktober 1869: freie Versammlung des »Fachvereins der Pfeifenschneider und Drechsler« im Ottakringer Brauhaus (Ignaz Kuffner und Jacob Kuffner) in Ottakring, Hauptstraße 91 (Niederösterreich [zu Wien 16., Ottakringer Straße 91], zum Thema »Das sozialdemokratische Programm«; - 22. November 1869: freie Versammlung der Drechslergehilfen in »Zobel’s Bierhalle« (Franz Zobel) in Fünfhaus (Niederösterreich [zu Wien 15.]), Gasgasse 4–6 / Zwölfergasse 3–15, zur Tagesordnung »1. Gründung eines Fachvereins; 2. Allgemeine Angelegenheiten, Lohnerhöhung und Abkürzung der Arbeitszeit«;
- 27. November 1869: erste Versammlung der Wäscherinnen, »Parlament der Wäscherinnen« genannt, in »Paulnsteiner’s Bierhalle« (Ferdinand Paulnsteiner) in Währing (Niederösterreich [zu Wien 18.]), Feldgasse 16, über deren Arbeitszeit und schlechte Entlohnung;
- 1. Dezember 1869: allgemeine Volksversammlung des »Vereins zur Wahrung der Volksrechte« in »Zobel’s Bierhalle« (Franz Zobel) in Fünfhaus (Niederösterreich [zu Wien 15.]), Gasgasse 4–6 / Zwölfergasse 3–15, zur Tagesordnung »Diskussion und Fassung einer Resolution über den Erlass des Ministers des Innern, Dr. Giskra, betreffend die Interpretierung des Vereins- und Versammlungsgesetzes«
- 6. Dezember 1869: zweite Versammlung der Wäscherinnen, »Parlament der Wäscherinnen« genannt, in »Paulnsteiner’s Bierhalle« (Ferdinand Paulnsteiner) in Währing (Niederösterreich [zu Wien 18.]), Feldgasse 16, über deren Arbeitszeit und schlechte Entlohnung;
- 16. Dezember 1869: öffentliche Versammlung des Vereins »Demokratischer Fortschritt« im Gasthaus »zum schwarzen Kopf« (Dominik Köck), Wien 8., Albertgasse 25, zur Tagesordnung »Die Haltung des Bürgertums den Arbeitern gegenüber«;
- 1. Jänner 1870: allgemeine Volksversammlung der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs« im Etablissement »Universum« (Therese Hör), Brigittenau 80, (Niederösterreich [zu Wien 20., nahe der Taborstraße, Areal des Nordwestbahnhofes]), zur Tagesordnung »1. Der Koalitionsgesetzentwurf. 2. Die Stellung der beiden Häuser des Reichsrats zur Arbeiterbewegung«, wobei Johann Most eine polizeiliche Verwarnung erhielt;
- 20. Jänner 1870: allgemeine Volksversammlung der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs« in »Zobel’s Bierhalle« (Franz Zobel) in Fünfhaus (Niederösterreich [zu Wien 15.]), Gasgasse 4–6 / Zwölfergasse 3–15, zur Tagesordnung »Die beiden ministeriellen Memoranden«;
- 30. Jänner 1870: Gründungsversammlung des »Fachvereins der Kürschner, Kappenmacher, Rauchwarenfärber und Zurichter« in »Zobel’s Bierhalle« (Franz Zobel) in Fünfhaus (Niederösterreich [zu Wien 15.]), Gasgasse 4–6 / Zwölfergasse 3–15, zum Thema »Nutzen und Zweck der Fachvereine«;
- 27. Februar 1870: allgemeine Volksversammlung der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs« im Etablissement »Universum« (Therese Hör) in Brigittenau 80 (Niederösterreich [zu Wien 20., nahe der Taborstraße, Areal des Nordwestbahnhofes]), zur Tagesordnung »1. Das Lohn- und Erwerbsteuergesetz. 2. Der Setzer-Streik«.
Außerdem hielt Johann Most fünf Vorträge in den Lesezimmern des »Arbeiter-Bildungsvereins«: im Dezember 1869 und Februar 1870 je einen in Ottakring (Niederösterreich [zu Wien 16.]), im Jänner 1870 einen in Meidling (Niederösterreich [zu Wien 12.]) sowie im Februar 1870 je einen in Fünfhaus und Landstraße in Wien 3.; drei für den März 1870 angekündigte Vorträge fielen seiner inzwischen erfolgten Verhaftung zum Opfer. Auch außerhalb Wiens trat Most als Redner auf, etwa am 6. Jänner 1870 in Wiener Neustadt (Niederösterreich) und am 15. Februar 1870 in Brünn (Mähren [Brno, Tschechien]).
Kurz nach seinem Vortrag vom 1. Jänner 1870 wurde Johann Most auf das Kommissariat Roßau bestellt, weil er als Ordner bei der großen Demonstration vom 13. Dezember 1869 fungiert hatte. Damals demonstrierten rund zwanzigtausend Arbeiterinnen und Arbeitern vor dem Wiener Parlament für das Koalitionsrecht, also das Recht auf Bildung von Arbeitervereinen und Gewerkschaften. Es war dies der größte Aufmarsch der Arbeiterschaft in Wien seit dem Revolutionsjahr 1848. Man wies nun Most darauf hin, dass er nicht von so genannten Agitationsgeldern leben dürfe. Er wurde aufgefordert, seinen Lebensunterhalt nachzuweisen, ansonsten würde er ausgewiesen werden. Doch schon am 28. Jänner 1870 fanden in Wien mehrere Hausdurchsuchungen bei Sozialdemokraten statt, darunter auch bei Most. Laut Gericht dienten diese der »Orientierung über die Arbeiterbewegung«. Die dabei beschlagnahmten Papiere wurden dem Landesgericht Wien zugestellt. In der ersten Februar-Woche 1870 wurden mehrere Sozialdemokraten, darunter neuerlich Most, in das Büro des Untersuchungsrichters vorgeladen. Schließlich wurde Johann Most am 2. März 1870 gemeinsam mit vier anderen Arbeiterführern verhaftet. In den viereinhalb Monaten Untersuchungshaft verfasste Most mindestens drei Nummern einer handgeschriebenen illegalen Gefängniszeitung mit dem Titel »Nussknacker« [Wien] beziehungsweise »Kriminalanzeiger« [Wien], jeweils mit dem Untertitel »Organ für hochverrätherische Interessen«. Am 4. Juli 1870 begann vor dem Landesgericht Wien der große Wiener Hochverratsprozess gegen vierzehn führende Funktionäre der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs«, unter ihnen Johann Most.2 Im Zuge der Verhandlungen präsentierte Most auch sein – angeblich gewissenhaft geführtes – Tagebuch. Am 19. Juli 1870 wurden wegen Verbrechens des Hochverrats der Journalist Heinrich Oberwinder (1846–1914) zu sechs Jahren schweren Kerker, verschärft mit einem Fasttag monatlich, und der Buchbindergeselle Johann Most, der Schriftsetzer Johann Pabst (1847–1916) sowie der Modelleur und Redakteur Andreas Scheu (1844–1929) zu je fünf Jahren schweren Kerker, verschärft mit einem Fasttag monatlich, verurteilt. Außerdem sollten Most und Oberländer aus allen Kronländern des österreichischen Kaiserstaates ausgewiesen werden. Während des Berufungsverfahrens blieb Most in Wien inhaftiert. Mit Urteil vom 19. September 1870 setzte das Oberlandesgericht Wien Mosts Strafe auf drei Jahre schweren Kerker herab. Johann Most wurde in das Gefängnis in Suben (Oberösterreich) verlegt, wo er die Zelle mit Johann Pabst teilte. Über die Gesuche von Most und Pabst um Revision des Strafprozesses und der Strafurteile kassierte der Oberste Gerichtshof am 28. Jänner 1871 die Urteile des Oberlandesgerichts wegen eines Formfehlers und sandte alle Prozessakten an das Oberlandesgericht zurück. Die Angelegenheit erledigte sich jedoch durch die Amnestie für politische Verbrechen und Vergehen vom 8. Februar 1871.
Auch Johann Most wurde amnestiert und am nächsten Tag entlassen. Er kehrte zusammen mit seinen ebenfalls amnestierten Genossen mit der Eisenbahn am 10. Februar 1871 abends aus Suben nach Wien zurück, wo sie von hunderten Arbeiterinnen und Arbeitern erwartet wurden. Most hielt noch am Westbahnhof eine erste Dankesrede. Auf die Schultern gehoben, wurde er von Arbeiterinnen und Arbeitern unter Absingen der »Arbeitermarseillaise« nach Hause geleitet. Das eigentliche, große Rückkehrfest gab es für die amnestierten Sozialdemokraten im Rahmen einer Volksversammlung der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs« am 27. Februar 1871 im Mehrzwecksaal des Wiener Sophienbads (Sophiensaal), Wien 3., Marxergasse 17., mit der Tagesordnung »1. Die Presse; 2. Das allgemeine Stimmrecht; 3. Die Stellung des arbeitenden Bürgertums zum neuen Ministerium«. Most sprach nicht nur seine Dankesworte für den Empfang bei seiner Rückkehr aus, er hielt auch eine politische Rede.
Anfang März 1871 trat Johann Most eine große Agitationsreise an, bei der er nach eigenen Angaben innerhalb von sechs Wochen an vierzig Orten Reden in Volksversammlungen hielt: etwa am 6. März 1871 in der »Puntigamer Bierhalle« in Graz, Jakobigasse 6 [Orpheumgasse 8]. In der Steiermark besuchte er noch einige kleinere Orte, sprach unter anderem am 12. März 1871 in Zeltweg und am 13. März 1871 in Judenburg. Danach ging es nach Kärnten, wo er beispielsweise am 20. März 1871 in Klagenfurt am Wörthersee / Celovec ob Vrbskem jezeru und am 22. März 1871 in Villach / Beljak sprach. Dann kehrte Most wieder nach Graz zurück, wo er am 25. März 1871 neuerlich in der »Puntigamer Bierhalle« eine Rede hielt. Danach reiste er in den Süden und referierte am 2. April 1871 in Marburg an der Drau (Steiermark [Maribor, Slowenien]). Am 3. April 1871 kam er nach Laibach (Krain [Ljubljana, Slowenien]), doch wurde die angekündigte allgemeine Arbeiterversammlung und damit auch sein Vortrag über »Die Prinzipien Lassalles« behördlich untersagt. Am 5. April 1871 traf Most in Triest (Küstenlande [Trieste, Italien]) ein, musste jedoch auch hier am nächsten Tag unverrichteter Dinge wieder abreisen. Er begab sich daraufhin nach Graz, wo Most am 9. April 1871 die Leichenrede auf einen am 6. April 1871 verstorbenen Genossen, den Kleidermachergehilfen Wilhelm Moser (~1847–1871), hielt. Hier referierte er auch am 13. April 1871 im »Fachverein der Kleidermacher«. Nach Wien zurückgekehrt, sprach Johann Most am 26. April 1871 auf einer freien Versammlung der Waffenarbeiter zur Tagesordnung »Debatte über Bestrebungen des Arbeiterstandes«. Anschließend plante er eine Agitationsreise nach Mähren und Böhmen. Aber am 2. Mai 1871 wurde vom Polizeirat in der Josefstadt (Wien 8.) das Dekret der Polizei-Direktion Wien publiziert, aufgrund dessen Johann Most als »staatsgefährlich« aus sämtlichen Kronländern der österreichischen Reichshälfte ausgewiesen wurde. Kurz darauf verließ Johann Most Wien.
Johann Most, der Rast- und Ruhelose, hat einen unbestritten wichtigen Anteil an der Organisierung der österreichischen Arbeiterbewegung. Noch heute werden seine »Sechs Proletarier-Lieder, gewidmet den Arbeitern Oesterreichs« gesungen, die er den Wiener Arbeiterinnen und Arbeitern als Dankeschön hinterlassen hatte.3 Vor allem aber wirkte er später von seinem englischen beziehungsweise US-amerikanischen Exil aus wesentlich auf die radicale Arbeiterbewegung in Österreich ein. Und er setzte den Radicalen, Sozialrevolutionären sowie den frühen Anarchistinnen und Anarchisten Österreichs in seiner Zeitung »Freiheit« (London, dann New York) sowie mit einer Unmenge von Flugblättern wichtige Wegmarken. Allerdings, wie Johann Most später über sein Intermezzo in Österreich resümierte, es »hatte die damalige Arbeiterbewegung von Oesterreich einen ausgesprochen sozialdemokratischen Charakter – von Anarchismus wusste man noch nichts –, allein es wehte durch dieselbe ein total revolutionärer Geist.«4
Autor: Reinhard Müller
Version: November 2024
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Zu Johann Most in Wien vgl. Hartmut Schilling: »Wer schafft das Gold zu Tage?« – Zum Porträt des sozialistischen Publizisten und Agitators Johann Most in Österreich (1868–1871) – Magisterarbeit. Osnabrück, im August 1986. Osnabrück 1986, XIII, 139 Bl., Maschinschrift; vgl. auch die Darstellungen aus anarchistischer Sicht des Schriftstellers Horst Karasek (1939–1995): Sprechübungen oder »Der erste Hochverratsprozeß«. Zürich und Wien zwischen 1867 und 1871, in ders.: John Most mit dem schiefen Maul. Restauration an einem entstellten Porträt. Frankfurt [am Main]: Verlag Freie Gesellschaft [1974] (= Horst Karasek: Propaganda und Tat. Drei Abhandlungen über den militanten Anarchismus unter dem Sozialistengesetz. [2].), S. 13–17; vgl. auch den Artikel des Anarchisten und späteren revolutionären Sozialisten Max Nomad [d. i. Max Nacht (1881–1973)]: The Preacher. Johann Most, Terrorist of the Word, in ders.: Apostles of Revolution. A century of Social Conflict told through the lives of Blanqui, Marx, Bakunin, Nechayev, Makhno, Most, Stalin. London: Martin Secker and Warburg LTD 1939, S. 156–301. Johann Most selbst hat mehrfach seinen Österreichaufenthalt thematisiert; vgl. [Johann Most]: Abenteuer mit der Polizei und im Gefängnisse, in: Der Nußknacker. Sonntags-Beilage der »Chemnitzer Freie Presse« (Chemnitz), 1. Jg., Nr. 11–22 (17. März bis 2. Juni 1872); ders.: Zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Österreich, in: Die Neue Gesellschaft. Monatsschrift für Sozialwissenschaft (Zürich), 1. Jg. (1877/1878), H. 1 (Oktober 1877), S. 44–46, H. 3 (Dezember 1877), S. 145–152, und H. 5 (Februar 1878), S. 234–250; Anonymus Veritas [d. i. Johann Most]: Acht Jahre hinter Schloß und Riegel. Skizzen aus dem Leben Johann Most’s. New York: [Selbstverlag des Verfassers] 1886, S. 13–32; John Most [d. i. Johann Most]: Memoiren. Erlebtes, Erforschtes und Erdachtes. Erster Band. New York: Selbstverlag des Verfassers John Most 1903, S. 57–80; ders.: Memoiren. Erlebtes, Erforschtes und Erdachtes. Zweites Bändchen. New York: Selbstverlag des Verfassers John Most 1903, S. 5–75. Siehe auch Johann Most: Brief an die österreichischen Arbeiter (26. Januar 1874), in: Arbeiter-Wochen-Chronik (Budapest), 2. Jg., Nr. 7 (15. Februar 1874), S. [3].
- 2
Vgl. Der Hochverraths-Proceß gegen Oberwinder, Andr. Scheu, Most, Papst, Hecker, Perrin, Schönfelder, Berka, Schäftner, Pfeiffer, Dorsch, Eichinger, Gehrke und Baudisch. Verhandelt vor dem k. k. Landesgerichte in Wien begonnen am 4. Juli 1870. Nach stenographischen Berichten bearbeitet und herausgegeben von Heinrich Scheu. Wien: Im Selbstverlage des Herausgebers 1870, 442 S.
- 3
Vgl. Joh[ann] Most: Sechs Proletarier-Lieder, gewidmet den Arbeitern Oesterreichs. Leipzig: Selbstverlag des Verfassers [1871], IV, 12 S.; die Weiterverbreitung der Druckschrift wurde mit Erkenntnis des Landesgerichts in Strafsachen als Pressgericht Wien vom 29. Dezember 1871 in Österreich verboten; ders.: Sechs Proletarier-Lieder, gewidmet den Arbeitern Oesterreichs von Joh. Most. Zweite, verbesserte Auflage. Chemnitz: Selbstverlag des Verfassers [1871], 8 S.; ders. Sechs Proletarier-Lieder, gewidmet den Arbeitern Oesterreichs von Joh. Most. Dritte Auflage. Chemnitz: Selbstverlag des Verfassers [1872], 8 S.; ders.: Neuestes Proletarier-Liederbuch von verschiedenen Arbeiterdichtern. Gesammelt von Joh. Most. Vierte verbesserte Auflage. Chemnitz: Druck und Verlag der Genossenschafts-Buchdruckerei Chemnitz 1873, 88 S.; Most’s Proletarier-Liederbuch. In 5. Auflage zusammengestellt und herausgegeben von G. Geilhof. Chemnitz: Druck und Verlag der Genossenschafts-Buchdruckerei Chemnitz G. Rübner u. Co. 1875, 80 S. Zusammengestellt von Gustav Geilhof.
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John Most [d. i. Johann Most]: Memoiren. Erlebtes, Erforschtes und Erdachtes. Zweites Bändchen: Der Wiener Hochverraths-Prozess von Jahre 1870. New York: Selbstverlag des Verfassers John Most 1903, S. 64.