Die organisatorischen Reste der anarchistischen Bewegung in Österreich. 1896 bis 1903
Nachdem die Bewegung der Unabhängigen Socialisten im Zuge einer massiven behördlichen Verfolgung 1896 weitgehend zerschlagen war, begann die lange Zeit der Stagnation, die erst 1904 ihr Ende finden sollte. Viele Anarchisten saßen im Gefängnis oder wurden ausgewiesen, andere kehrten von sich aus in ihre böhmische, mährische, galizische oder ungarische Heimat zurück oder gingen ins Exil. Und die Verbliebenen hielten sich meist bedeckt, waren höchstens in politisch eher unbedenklichen Vereinen aktiv. Und die Zahl der Vereine der Unabhängigen Socialisten hatte sich durch Verbot oder so genannte freiwillige Selbstauflösung stark reduziert.
Allein in Wien gab es von den 1893 rund fünfzehn Vereinen der Unabhängigen Socialisten 1896 im Wesentlichen nur mehr fünf.
An erster Stelle ist dabei der 1893 gegründete nicht-politische »Lese- und Discutirverein ›Aurora‹« in Wien 16., zu nennen, der sich allerdings im Jänner 1904 wegen zu geringer Beteiligung der Mitglieder freiwillig auflöste. Ihm gehörten deutsch- und tschechischsprachige Anarchisten an. Obmann war der Schuhmacher Anton Stránský (~1860–?), seit 1894 der Schuhmacher Wenzel Riha, seit 1896 der Bäckergehilfe Wilhelm Nemetz, seit 1898 der Schneidergehilfe Rudolf Duscha (~1869–?), seit 1899 der Bronzearbeiter Julius Ehinger (1868–1940), seit 1900 wieder Wilhelm Nemetz, seit 1901 der Tischler Richard Fiedler, seit 1902 Josef Sindelař und 1903 wieder Richard Fiedler. Obmann-Stellvertreter war zunächst der Tischler Richard Fiedler, seit 1894 Julius Eichinger, seit 1896 der Schlosser Franz Pölderl, seit 1898 der Schneidergehilfe Wenzel Bazant (1870–1913), seit 1899 der Schuhmacher Franz Soutschek, seit 1901 der Schuhmacher Josef Wanek, seit 1902 Johann Tomeček und seit 1903 wieder Josef Wanek.
Weiters gab es den 1894 gegründeten und formal bis 1914 aktiven, nur aus tschechischen Mitgliedern bestehenden nicht-politischen »Slavischen Lese- und Discutirverein ›Pokrok‹« (Fortschritt) in Wien 2. seit 1900 in Wien 20., seit 1906 in Wien 15. Obmann war der Schneidegehilfe Methedius Plhal (~1862– 1894), nach dessen Tod seit 1894 der Sozialdemokrat Anton Cernik, seit 1898 der Schneidergehilfe Josef Urianek (1873–1913), seit 1900 Franz Chovanek, seit 1901 Franz Soukup, seit 1903 Franz Smakal, seit 1904 Josef Kolony, seit 1905 Franz Hadač und seit 1906 der Schuhmacher Johann Hejda.
Ebenfalls lediglich aus tschechischen Mitgliedern bestehend war der 1893 gegründete, bis etwa 1908 aktive nicht-politische »Fortbildungsverein ›Rovnost‹« (Gleichheit) in Wien 10. Obmann war der Lederzurichter Franz Kral, seit 1894 Heinrich Bazzoni, seit 1895 Franz Rejnoha und seit 1896 Franz Jelinek. Obmann-Stellvertreter waren Karl Morawetz und Franz Bauer, seit 1894 Franz Bauer und der Versicherungssquisiteur Mathias Salveter, seit 1895 Josef Zednik und Heinrich Bazzoni, seit 1896 Franz Filous, seit 1903 Josef Hlavaček und seit 1904 der Schlossergehilfe Johann Poddaný.
Dazu kam die 1895 gegründete und bis 1914 aktive »Gewerkschaft der Schuhmacher Wiens« in Wien 16., seit 1896 in Wien 15., der tschechisch- und deutschsprachige Mitglieder angehörten. Obmann war der Schuhmacher Josef Huber (~1867–?), seit 1896 der Schuhmacher Willibald Polzer, seit 1897 der Schuhmacher Lorenz Primisel (1859–?), seit 1899 der Schuhmacher Josef Quittung, seit 1900 der Schuhmacher Wenzel Riha, seit 1903 der Schuhmacher Josef Wanek und seit 1904 der Schuhmacher Martin Kubů. Obmann-Stellvertreter waren die bereits genannten Willibald Polzer und seit 1896 Wenzel Riha, seit 1899 der Schuhmacher Karl Zach, seit 1900 der Schuhmacher Franz Forst, seit 1901 der Schuhmacher Adalbert Cihlo, seit 1903 Martin Kubů und seit 1904 der Schuhmacher Franz Kitzler. Die Gewerkschaft gab von 1910 bis 1913 die Zeitung »Der freie Schuhmacher« (Wien) heraus.
Als beständigste anarchistische Organisation fungierte der bis 1914 aktive »Arbeiter-Sängerbund ›Morgenröthe‹« in Wien 5., seit 1897 in Wien 6., seit 1902 in Wien 14., dessen Bildung mit Erlass der niederösterreichischen Statthalterei vom 26. Dezember 1893 nicht untersagt wurde. Dieser war eine Art Sammelbecken sangesfreudiger Wiener Anarchisten und häufiger Gast bei diversen Festveranstaltungen und Begräbnissen.
Allen Wiener Organisationen gemeinsam waren die Dominanz tschechischer Anarchisten und die geringe Vereinsaktivität.
Nur wenig besser sah es in der Steiermark aus. Unter dem Einfluss des Schneidergehilfen Johann Risman (1864–1936) und des Bäckergehilfen August Krčal (1860–1894) war in Graz (Steiermark) am 8. August 1892 von den Unabhängigen Socialisten der Verein »Steiermärkischer Arbeiterbund« gegründet worden. Dieser wurde zwar am 12. September 1896 behördlich verboten, doch dessen Mitglieder hatten mittlerweile den mit Erlass der Statthalterei Steiermark vom 8. Juli 1893 genehmigten »Arbeiter-Bildungs- und Unterstützungs-Verein« (seit 7. März 1899 »Arbeiter-Bildungs- und Unterstützungs-Verein in Graz«) gegründet. Dieser trug durch sein Bestehen bis 1934 wesentlich zur Kontinuität der anarchistischen Bewegungen in der Steiermark bei. Doch auch dieser verhielt sich in der zweiten Hälfte der 1890er-Jahre politisch ruhig. Bezeichnenderweise gab man hier recht öffentlichkeitswirksam seit 1896 alljährlich einen Tanzkurs, eine Initiative des Schmiedgehilfen und späteren Gemischtwarenhändlers Josef Meitzenitsch (~1858–?), damals Obmann-Stellvertreter des »Arbeiter-Bildungs- und Unterstützungs-Vereins«. Allerdings gab es noch die Grazer »Gewerkschaft der Bäcker«, deren anarchistische Mitglieder sich vor allem in der am 27. November 1892 als Firma gegründeten »Ersten steiermärkischen Arbeiter-Bäckerei, registrierte Genossenschaft mit beschränkter Haftung« in Eggenberg [zu Graz] (Steiermark) betätigten. Auch diese war bis 1934 ein Sammelzentrum Grazer Anarchisten. Wenig auffällig waren die einst rührigen Unabhängigen Socialisten der »Steiermärkischen Schneidergewerkschaft«.
Ansonsten gab es in Österreich lediglich durchwegs gescheiterte Versuche Einzelner, anarchistische Gruppen ins Leben zu rufen. In Linz an der Donau (Oberösterreich) schlief die 1893 vom Schuhmacher Josef Blatzky (~1864–?) gegründete Gruppe um 1897 wieder ein, ohne je wirkungsvolle Organisationsstrukturen aufgebaut zu haben. Ein Mitglied derselben, der Schneidergehilfe Wenzel Andera (1864–?), bemühte sich zwar später um eine Wiederbelebung anarchistischer Aktivitäten in Linz an der Donau, doch ebenfalls vergeblich.
Ebenso erfolglos blieb der Versuch des Lithografen Adalbert Maleč (1869–?), in Innsbruck (Tirol) eine Anarchistengruppe zu begründen; sein entsprechender Aufruf in der anarchistischen Zeitung »Neues Leben« (Berlin) verhallte 1899 ungehört. Kurz darauf wurde er wegen angeblicher Fälschung öffentlicher Kreditpapiere inhaftiert.
In Klagenfurt / Celovec [Klagenfurt am Wörthersee / Celovec ob Vrbskem jezeru] (Kärnten) veranstaltete nach längerer Zeit der Untätigkeit der Wortführer der Unabhängigen Socialisten, der Tagelöhner Friedrich Preschern (1850–1919), 1902 eine Erste Mai-Feier, zu der allerdings der Bäckergehilfe Anton Notzar (1848–1917) als Redner aus Graz anreisen musste.
Autor: Reinhard Müller
Version:November 2025
Anarchistische Bibliothek | Archiv | Institut für Anarchismusforschung | Wien
Copyleft
Weiter: Exkurs: Bruno Wille (1860–1928) in Österreich. 1897 bis 1898
Zurück: Anton Losert und seine »Blätter für Sozialreform«. 1893 bis 1896