Zum weltanschaulichen Profil der Freiland-Bewegung Theodor Hertzkas
Im Auftrag der »Ersten Wiener Freiland-Gesellschaft im Ersten Bezirke« verfasste der Wiener Fabrikant Alois Pollak (1844–1904) im Jahr 1894 eine Einführung in die Freilandtheorie, die noch heute zu den prägnantesten Darstellungen zählt. Darin wurden folgende Grundsätze formuliert: »1. Die Ausbeutung der Arbeit Anderer, in welcher Form immer: als Unternehmergewinn, Kapitals- oder Bodenrente, ist mit wirthschaftlicher Gleichberechtigung unvereinbar und entspricht nicht den entwickelten Productions-Verhältnissen. 2. Jeder hat das Anrecht auf den gesammten Boden und auf die von der Gesammtheit beizustellenden Productionsmittel. Ein ausschliessliches Recht hat jeder nur auf den Boden, auf dem sich seine Wohnstätte befindet. 3. Die den Producenten von der Gesammtheit zur Verfügung gestellten unverzinslichen Productionsmittel werden in angemessenen Jahresraten aus dem Gesammtertrage der Production zurückgezahlt. Jegliche Production hat aus ihrem Reinertrage einen bestimmten, gleichmässigen Percentualsatz zur Bestreitung der allgemeinen Bedürfnisse, zu denen in erster Reihe die Beschaffung der Productionsmittel gehört, an die Gesammtheit zu leisten. 4. Jeder hat das Recht, sich einer beliebigen Productions-Verbindung anzuschliessen, oder sie zu verlassen. Er haftet in beiden Fällen im Verhältnis seines Arbeitsertrages für die Rückzahlung der dargeliehenen Productionsmittel. 5. Jeder Theilhaber einer Productions-Verbindung bezieht als seinen Antheil am Reinertrage das, was seiner Arbeitsleistung nach Qualität und Quantität entspricht. Die Bemessung bleibt der freien Vereinbarung überlassen. 6. Die Rechnungslegung eine jeden Productions-Verbindung ist eine in jeder Beziehung öffentliche. Von der Gesammtheit eingesetzte Organe haben die statistischen Ausweise darüber so vollständig, rasch und übersichtlich als möglich zu veröffentlichen. 7. Das weibliche Geschlecht hat in Folge seiner besonderen Leistungen für die Gesellschaft als Mütter und Erzieherinnen, und weil dies eine Bedingung des Glückes der jeweiligen, wie der gedeihlichen Entwicklung der kommenden Generation ist, Anspruch auf auskömmlichen, der Höhe des allgemeinen Reichthums entsprechenden, Unterhalt. Denselben Anspruch geniessen: Kinder, jugendliche Individuen bis zur erlangten Berufsreife, Arbeitsunfähige, sowie Alle, die eine bestimmte Altersgrenze erreicht haben. 8. Niemand darf, sofern er nicht in die Rechtssphäre eines Anderen eingreift, in der Bethätigung seines individuellen Willens überhaupt, also auch nicht in Bezug auf Production und Consumtion gehindert werden. 9. Die öffentlichen Angelegenheiten werden nach den Beschlüssen aller eigenberechtigten Volljährigen, ohne Unterschied des Geschlechtes, verwaltet. Sie alle haben in den das Gemeinwesen betreffenden Angelegenheiten das gleiche active und passive Wahl- und Stimmrecht.«1
Aufbauend auf diesen wenigen Prinzipien gedachte Theodor Hertzka (1845–1924) das Individuum zu befreien und die Gesellschaft grundlegend umzubauen, wobei er zugestand: »Wir sind nicht überzeugt, dass sich die Umgestaltung der wirthschaftlichen Verhältnisse überall unblutig vollziehen werde, aber wir zeigen, dass und wie sie sich friedlich vollziehen könne.«2 Von Anfang an versuchte Theodor Hertzka sich konsequent von anderen Reformbewegungen abzugrenzen, selbst von Michael Flürscheim (1844–1912), der »eifrig bemüht sei, ein Zusammengehen seiner Gesinnungsgenossen, der Owen’schen Topolobampo-Colonisten und der Anhänger der Freiland-Idee herbeizuführen.«3 Erst recht bemühte sich Hertzka um Distanz zur Sozialdemokratie.4 Abgesehen von den ökonomischen Differenzen mit den Marxisten, die aus obigem Programm der Freiländer ersichtlich werden, lehnte er vor allem deren sozialen Zwangscharakter ab: »Die Organisation jeglicher Arbeit hat also nicht von gesellschaftswegen, sondern ausschliesslich von Seiten Derjenigen von Statten zu gehen, die bei dieser Arbeit unmittelbar interessirt sind. Die gesellschaftliche Organisation ist nicht blos überflüssig, sondern unmöglich, und wenn sie möglich wäre, müsste sie als schädlich verworfen werden.«5 Und Hertzka setzte nach: »Nun glauben die Social-Demokraten allerdings, dass sothane Herrenlosigkeit zu einem unaufhörlichen, planlosen Kriege Aller gegen Alle führen müsste, wenn die Gesellschaft nicht ordnend eingreife. Dem ist jedoch nicht so; auch die hier scheinbar vorhergehende Schwierigkeit löst sich bei consequenter Anwendung des Principes der wirthschaftlichen Freiheit. Man darf nur nicht übersehen, dass Niemand ein ausschliessliches Nutzungsrecht auf die solcherart der Benützung Aller anheimgebenden Productionsmittel geltend machen kann, dass er sohin Jene, die gleich ihm und mit ihm die nämlichen Productionsmittel benützen wollen, neben sich dulden, sich mit ihnen in’s Einvernehmen setzen muss. Bringt man diesen so überaus einfachen und selbstverständlichen Grundsatz in Zusammenhang mit dem ebenso selbstverständlichen und einleuchtenden […], dass Jedermann als Producent von dem Bestreben geleitet ist, mit möglichst geringer Plage möglichst hohen Ertrag seiner Arbeit zu finden, so lässt sich leicht zeigen, dass vollendetste wirthschaftliche Harmonie das nothwendige Ergebnis dieser scheinbaren Anarchie sein muss.«6 Auch das blinde Vertrauen in eine materialistisch bedingte Geschichtsentwicklung, welche dem Individuum keine Bedeutung zuweise, lief seiner Weltanschauung zuwider. Die Marxisten übersähen, »dass nämlich alle menschlichen Entwicklungsphasen, das die ganze menschliche Geschichte von Menschen gemacht werden muss. Das wächst nicht wie die Blume auf dem Felde, wo man blos zuzusehen braucht. Was das kommende Decennium bringen soll, dass müssen wir selbst, was das kommende Jahrhundert bringt, das müssen wir und die uns nachfolgenden Generationen machen. Menschen müssen es machen, sonst wird es nicht geschehen. […] Die sociale Entwicklung sind menschliche Einrichtungen, die von Menschen geschaffen werden müssen. Demgegenüber hat man immer das Wort ‹wissenschaftlicher Socialismus› ins Treffen geführt. Was ist das? Wer hat den Herren das wissenschaftliche Doctordiplom verliehen? – die Herren selber. Die ganze Wissenschaft spricht es ihnen ab und an der Spitze derselben steht Karl Marx, der sich mit dem im eigenthümlichen Ingrimme gegen die Verzerrung seiner Gedanken in den verschiedenen socialdemokratischen Programmen ausgesprochen hat. Diese Wissenschaftlichkeit ist eine Afterwissenschaftlichkeit, blindwüthiger unwissenschaftlicher Fanatismus. Ueberhaupt misstrauen Sie jeder Richtung, die davon ausgeht, dass alle anderen Richtungen, die sich ihr widersetzen, schlecht sind! Die einzige Quelle aller Macht ist der Glaube. Die grössten Gräuel in der Geschichte sind eingetreten, wenn die Menschen im besten Glauben zu handeln vermeinten.«7
Autor: Reinhard Müller
Version: Juli 2025
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Daten
- 1
Alois Pollak (1844–1904): Das Programm der Freiländer. Dargelegt und begründet im Auftrage der »Ersten Wiener Freiland-Gesellschaft im Ersten Bezirke«. Leipzig / Wien: Schaumburg-Fleischer’s Verlag / Wolfgang Schaumburg 1894, S. 15–16, zuerst abgedruckt in: Freiland (Wien), 3. Jg., Nr. 12 (3. Februar 1894), S. 2.
- 2
[Diskussionsbeitrag von Theodor Hertzka (1845–1924) in]: Wiener Freiland-Verein, in: Freiland (Wien), 2. Jg., Nr. 16/17 (28. März 1893), S. 1–5, hier S. 4 [recte 5].
- 3
[Michael Flürscheim (1844–1912) / Theodor Hertzka (1845–1924)]: Eine socialistische Actien-Gesellschaft, in: Freiland (Wien), 2. Jg., Nr. 4 (1. September 1892), S. 1–2, hier S. 1. – Topolobampo: Hafenstadt im Bundesstaat Sinaloa, Mexiko.
- 4
Vgl. zum Beispiel [Theodor Hertzka (1845–1924) / Victor Adler (1852–1918)]: Freiland und die Wiener Social-Demokraten, in: Freiland (Wien), [1]. Jg., Nr. 10 (17. November 1891), S. 2–4.
- 5
[Theodor Hertzka (1845–1924)]: Das social-demokratische Programm, in: Freiland (Wien), [1]. Jg., Nr. 13 (5. Jänner 1892), S. 1–6, hier S. 4.
- 6
[Theodor Hertzka (1845–1924)]: Das social-demokratische Programm, in: Freiland (Wien), [1]. Jg., Nr. 13 (5. Jänner 1892), S. 1–6, hier S. 5.
- 7
[Diskussionsbeitrag von Theodor Hertzka (1845–1924) in]: Wiener Freiland-Verein, in: Freiland (Wien), 2. Jg., Nr. 16/17 (28. März 1893), S. 1–5, hier S. 5.