Die territoriale Verbreitung der Unabhängigen Socialisten
Das Verbreitungsgebiet der Unabhängigen Socialisten lässt sich auf zweierlei Weisen erschließen. Den harten Kern mit Organisationen bildeten die in der Veranstaltungsübersicht der Zeitung »Die Zukunft« (Wien) genannten Vereine, die vor allem auf Wien, Graz (Steiermark), Klagenfurt am Wörthersee / Celovec ob Vrbskem jezeru (Kärnten) und Linz an der Donau (Oberösterreich) konzentriert waren. Weiters lässt sich die territoriale Streuung erschließen, indem man die in der Zeitung in der Rubrik »Briefkasten« sowie die in den diversen Spendenfonds (Press- und Agitationsfonds, Fonds für die Inhaftierten) der Zeitung ausgewiesenen Orte erfasst. Dadurch werden einerseits anonym gebliebene Beiträger zumindest lokal erfasst, andererseits die geografische Verbreitung der spendenbereiten Anhängerschaft der Bewegung.
Die Analyse der Fonds und redaktionellen Briefkasten-Mitteilungen der Zeitung »Die Zukunft« zeigt folgendes Bild. Ein Zentrum war Wien mit den zwischen 1890 und 1892 eingemeindeten ehemaligen Vororten. Hier existierten die nach Bezirken (bisweilen nach den eingemeindeten Vororten) benannten Gruppen II., V. (Margareten), VII. (Neubau), VIII. (Lerchenfeld), X., XII. (Meidling), XIV. (Rudolfsheim), XV. (Fünfhaus), XVI. und XVIII. (Währing) sowie die gewerkschaftlichen Gruppen der Möbelpacker, Schriftsetzer und Schuhmacher.
Auch in der so genannten Provinz gab es zahlreiche Orte, in denen sich die Unabhängigen Socialisten – zumindest zeitweise – etablieren konnten.
Kärnten: Ferlach / Borovlje, Klagenfurt am Wörthersee / Celovec ob Vrbskem jezeru, Sankt Veit an der Glan / Šentvid ob Glini und Villach / Beljak;
Niederösterreich: Baden, Ebergassing, Erlach [Bad Erlach], Floridsdorf [zu Wien 21.], Gloggnitz, Greifenstein [zu Sankt Andrä-Wördern], Herzogenburg, Kemmelbach [zu Neumarkt an der Ybbs], Leobersdorf, Lilienfeld, Pressbaum, Reichenau an der Rax, Retz, Schönau an der Triesting, Schwechat, Ternitz, Traisen, Tulln, Waidhofen an der Ybbs, Wiener Neustadt, Wilhelmsburg und Wöllersdorf [Wöllersdorf-Steinabrückl];
Oberösterreich: Freudenthal [zu Weißenkirchen], Linz an der Donau, Steyr (hier vor allem in der Gewerkschaft der Hafner) und Weyer an der Enns;
Salzburg: Salzburg in dem später eingemeindeten Ort Maxglan, wo Franz Egger (1859–1935) wohnte.
Steiermark: Algersdorf [zu Graz], Andritz [zu Graz], Donawitz [zu Leoben], Eggenberg [zu Graz], Graz, Leoben, Liebenau [zu Graz], Marburg an der Drau [Maribor, Slowenien], Mooskirchen, Mürzzuschlag, Ramsau am Dachstein und Weiz;
Tirol: Innsbruck und Meran [Merano / Meran, Italien].
Außerhalb des heutigen Österreich war das Zentrum der Unabhängigen Socialisten zweifelsfrei Böhmen (alle Orte heute in Tschechien): Asch [Aš], Aussig an der Elbe [Ústí nad Labem], Franzensthal bei Budweis [České Budějovice], Gablonz [Jablonec nad Nisou], Hennersdorf [Dolní Branná], Höflitz [Hvězdov], Karbitz [Chabařovice], Karlsbad [Karlovy Vary], Klein-Wöhlen [Malá Veleň], Klostergrab [Hrob], Komotau [Chomutov], Kosten [Košt’any], Maria Kulm [Chlum Sväté Maří], Mertendorf [Merboltice], Ober-Leutensdorf [Litvínov], Prag [Praha] – meist als »Genossen vom Laurenziberg« [Petřín] ausgewiesen – und Reichenberg [Liberec].
In Mähren war die Anhängerschaft deutlich geringer und auf die heute alle in Tschechien liegenden Orte beschränkt: Deutsch-Liebau [Německá Libina, zu Libina], Hohenstadt [Zábřeh] und Mährisch-Ostrau [Ostrava].
In Galizien und Lodomerien scheint nur die Hauptstadt des Kronlands, Lemberg [Lwiw ‹Львів›, Ukraine], auf.
In der ungarischen Reichshälfte werden überhaupt nur sechs Orte mit Unabhängigen Socialisten genannt: Zágráb / Agram [Zagreb, Kroatien], Budapest (meist die Gruppe »Freie Meinung«), Pécs / Fünfkirchen [Pécs, Ungarn], Esztergom / Gran [Esztergom, Ungarn], Resicabánya / Reschitza [Reșița, Rumänien] und Varasd / Warasdin [Varaždin, Kroatien].1
Im damaligen Ausland fanden sich nur vereinzelt Unabhängige Socialisten, wobei auffällt, dass in Deutschland nur Berlin (Preußen [Berlin]), Breslau (Preußen [Wrocław, Polen]), Cottbus (Preußen [Brandenburg]), Dessau (Anhalt-Dessau [Dessau-Roßlau, Sachsen-Anhalt]), Düsseldorf (Preußen [Nordrhein-Westfalen]), Hamburg (Freie und Hansestadt Hamburg), Köln (Preußen [Nordrhein-Westfalen]), Ludwigshafen am Rhein (Bayern [Rheinland-Pfalz]), München (Bayern), Offenbach am Main (Hessen [Hessen]), Scharfenstein [zu Drebach] (Sachsen) und Weißenfels (Preußen [Sachsen-Anhalt]) genannt werden.
Ansonsten finden sich noch Anhänger in der Schweiz: Basel / Bâle / Basiles (Kanton Basel-Stadt), Bern / Berne / Berna (Kanton Bern), Freiburg / Fribourg / Friburgo (Kanton Freiburg), Genf / Genève / Ginevra (Kanton Genf), Lausanne / Losanna (Kanton Waadt), Winterthur / Winterthour (Kanton Winterthur) und Zürich / Zurich / Zurigo (Kanton Zürich).
Weitere Anhänger finden sich in Antwerpen / Anvers (Belgien) und Lüttich / Liège (Belgien), in Paris (Frankreich), in London (England), in Kristiania [Oslo] (Norwegen), in Warschau ‹Warszawa› (Polen, de facto Russland [Polen]), in Bukarest ‹București› (Rumänien), und wiederholt tauchen »Genossen aus Schweden« auf. In den USA sind es vor allem die klassischen Anarchistenzentren, von wo sich die Anhängerschaft bei der Zeitung »Die Zukunft« meldete: Buffalo (New York), Chicago (Illinois) und New York City (New York).
Wie viele Unabhängige Socialisten in den genannten Orten agierten, darüber fehlen zuverlässige Daten. Aber die Anzahl der Organisationen an einem Ort, deren mehr oder weniger regelmäßig durchgeführte Veranstaltungen (aus dem Veranstaltungs-Kalender der Zeitung ersichtlich) sowie die Häufigkeit der Nennung lassen Wien und Graz als die beiden Zentren der Bewegung klar ersichtlich werden. Auch gab es in diesen beiden Städten laut der Zeitung »Die Zukunft« bei den diversen Veranstaltungen der Unabhängigen Socialisten stets um die dreihundert bis fünfhundert Besucherinnen und Besucher, in Graz vereinzelt bis sechshundert, in Wien bis tausend. Für die anderen größeren Orte, insbesondere Klagenfurt am Wörthersee / Celovec ob Vrbskem jezeru und die böhmischen Industriestädte, wurden meist zwischen hundertzwanzig und hundertfünfzig Teilnehmerinnen und Teilnehmer geschätzt.
Autor: Reinhard Müller
Version: Juni 2025
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Daten
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In Ungarn begannen sich die Unabhängigen Socialisten erst in der zweiten Hälfte der 1890er-Jahre zu organisieren. So verabschiedeten sie erst auf dem Kongress in Cegléd, 8. bis 10. September 1897, ein »Manifest der Grundsätze der Unabhängigen Sozialistischen Partei«; vgl. Manifesto of the Principles of the Independent Socialist Party, in: Liberty and Socialism. Writings of Libertarian Socialists in Hungary 1884–1919. Edited and Translated by János M[ihály] Bak in collaboration with András Bozóki and Miklós Sükösd, with an afterword by Wayne Thorpe. Savage, Maryland: Rowman & Littlefield Publishers, Inc. 1991, S. 197–198; vgl. auch Jenő Henrik Schmitt (1851–1916): Anarchism and Independent Socialism (1897), in: ebenda, S. 21–27.