Die Affäre Bruno Wille (1860–1928). Wien und Graz 1897
Der deutsche Schriftsteller Bruno Wille (1860–1928) war Prediger der freireligiösen Gemeinde in Berlin (Preußen [Berlin]).1 In den späten 1880er- und frühen 1890er-Jahren stand er an der Spitze der so genannten Opposition der Jungen gegen die deutsche Sozialdemokratie, war später aber nie Anhänger einer bestimmten anarchistischen Bewegung. Seine Lehre ist vom Versuch einer Synthese von individualistischem Anarchismus nach Max Stirner (1806–1856) und kommunistischem Anarchismus nach Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842–1921) geprägt. Deshalb wurde seitens der Anarchisten die von Wille gegründete freireligiöse Bewegung als eine der ihren akzeptiert und gewürdigt.
Bruno Wille kam als Delegierter der Freireligiösen Gemeinde Berlin nach Österreich zur 15. Hauptversammlung des 1881 gegründeten »Deutschen Freidenkerbundes«, welche vom 27. bis 29. Juni 1897 in Wien abgehalten wurde. Am Vormittag des 27. Juni 1897 hielt Bruno Wille auf Einladung des »Vereins der Freidenker«, Ortsgruppe Floridsdorf, in »Kappeller's Gasthaus« (Georg Kappeller) in Floridsdorf (Niederösterreich [zu Wien 21.]), Hauptstraße 1 [Donaufelder Straße], in einer freien Vereinsversammlung vor etwa 150 Personen den Vortrag »Die Veredelung der Menschen«. Und am Nachmittag des 27. Juni 1897 sprach er auf Einladung des »Vereins der Freidenker«, Ortsgruppe III, in »Reinwein's Saal« des Gasthauses »zum weißen Lamm« (Johann Reinwein) in Wien 3., Rennweg 71, vor etwa 100 Personen über »Freidenkertum und Kirche«. Der anwesende Polizeikommissär unterbrach als Regierungsvertreter den Redner nach einer Dreiviertelstunde und löste die Versammlung wegen Herabwürdigung des Gottesbegriffs und der kirchlichen Lehre behördlich auf. Am 28. Juni 1897 referierte Bruno Wille auf Einladung des »Vereins der Freidenker« in der »Pottenbrunner Bierhalle« (Anna Dwořak) in Wien 10., Laxenburger Straße 59, über die »Veredelung der Menschheit«. Als danach ein Sozialdemokrat Willes Vortrag durch selbst Erlebtes illustrieren wollte, unterbrach der Regierungsvertreter diesen und löste die Versammlung behördlich auf. Für Vormittag den 29. Juni 1897 wurde Bruno Willes Vortrag über die Frage »Sind Kirche und Staat christlich?« in »Sommer's Restaurant« (Mathias Sommer) in Wien 13., Hadikgasse 58, angekündigt. Und am Abend des 30. Juni 1897 sprach Bruno Wille auf Einladung der »Ethischen Gesellschaft« in einer außerordentlichen Vereinsversammlung im »Festsaal des Kaufmännischen Vereins« in Wien 1., Johannesgasse 4, über »Die Religion der Freude«. Wille konnte seinen Vortrag ohne Unterbrechung des Regierungsvertreters zu Ende führen, woraufhin der Vorsitzende der Versammlung diese nach einem Dank an den Vortragenden schloss. Allerdings wurde die in der »Arbeiter-Zeitung« (Wien) auszugsweise wiedergegebene Rede Bruno Willes teilweise konfisziert.2
Nach dem Kongress folgte Bruno Wille einer Einladung des »Vereins der Confessionslosen« in Graz (Steiermark). Die im September 1896 gegründete Freidenker-Vereinigung, welche am 1. Juli 1897 ihr neues Vereinslokal in der Bürgergasse 3, 2. Stock, bezogen hatte, war vor allem eine Organisation Grazer Anarchisten. Dieser Verein plante zwei Veranstaltungen mit Bruno Wille in Graz. Die erste fand am Abend des 2. Juli 1897 im Rahmen einer öffentlichen Vereinsversammlung in den »Annensälen«, Annenstraße 72, statt, wo ihn bereits etwa 400 Personen erwarteten. Der Vereinsobmann, der ehemalige Herausgeber und verantwortliche Schriftleiter der Zeitung »Die Zukunft« (Wien) Kajetan Valenci (1853–?), erklärte in seiner Begrüßungsrede, dass Bruno Wille nicht wie geplant über »Freidenkertum und Kirche« sprechen werde, sondern über »Die Religion der Freude«.3 Als Bruno Wille in seinem Vortrag die Lehre der katholischen Kirche von der strafenden Gerechtigkeit und der Hölle in Frage stellte, löste der anwesende Polizeikommissär Michael Papež die Versammlung wegen Verbrechens der Religionsstörung auf. Daraufhin entstand ein Tumult, über den der Polizeibeamte berichtete: »Ich holte nun Wachen herbei. Beim Verlassen des Saales kam ich in Lebensgefahr. ›Hauts ihn nieder‹! ›Nieder mit ihm‹ wurde von allen Seiten geschrien. Die gesamte Meute stürzte sich auf mich. Mit äußerster Energie und Umsicht konnte ich mich retten. Draußen wurde fortgeschrien ›Nieder mit ihm‹ Überall stellte sich das Gelichter auf um meiner habhaft zu werden. Als ich mit Wachen zurückkehrte, mußte ich mich ins Local zurückziehen, weil die Wachen der Übermacht nicht gewachsen waren. Als sich die Mehrzahl zerstreut hatten [!], mußte ich unter Bedeckung der Wachen zurückkehren, da überall Arbeiter in Gruppen aufgestellt waren und auf mich paßten. Die Mehrzahl der Theilnehmer waren Socialdemokraten, Burschenschafter, insbesondere Franconen, thaten sich beim Krawallmachen hervor.«4
Die in diesem Polizeibericht genannten dominierenden Gruppierungen – Sozialdemokraten und deutsch-nationale Burschenschaften – zeigen, dass die Unabhängigen Socialisten in Graz merkbar an Anhängerschaft verloren hatten: Und das selbst bei einem Vortrag, der von einem der Ihren, wie damals die Anarchisten meinten, gehalten wurde. Der in Friedrichshagen (Preußen [zu Berlin, Berlin]) wohnhafte Bruno Wille wurde wegen Fluchtgefahr am nächsten Tag, am 3. Juli 1897, in Graz verhaftet und ins Landes- als Untersuchungsgericht Graz eingeliefert. Die für den 4. Juli 1897 am Vormittag im Saal der »Steinfelder Bierhalle«, Münzgrabenstraße 10, vorgesehene Veranstaltung des »Vereins der Confessionslosen« konnte nicht mehr stattfinden. Es hätten Bruno Wille über die »Veredlung der Menschheit« und der Turnlehrer Constantino Reyer (1838–1931) über den »Schulantrag Ebenhochs« sprechen sollen. Dem »Verein der Confessionslosen« wurde nämlich bereits am 3. Juli 1897 jede Tätigkeit untersagt, bis er dann mit Erlass vom 14. September 1897 behördlich aufgelöst wurde. Zwei Vorstandsmitglieder des Vereins, der seit seiner 1894 verfügten Ausweisung aus Wien in Graz lebende Tischlermeister Kajetan Valenci und der Tischlergehilfe Franz Heindl (1867–1906), wurden wegen Übertretung des Vereinsgesetzes zu je 10 Gulden Geldstrafe verurteilt.
Härter traf es den bisher unbescholtenen Bruno Wille. Nach monatelanger Untersuchungshaft fand der ursprünglich für 29. November 1897 anberaumte Prozess gegen ihn vom 6. bis 9. Dezember 1897 vor dem Landesgericht Graz statt. »Bruno Wille«, heißt es in der Anklage, »habe durch die von ihm in öffentlichen Versammlungen in Wien am 27. Juni 1897 und in Graz am 2. Juli 1897 gehaltenen Reden Unglauben zu verbreiten und Lehren, Gebräuche und Einrichtungen der im Staate anerkannten christlichen Kirche und jüdischen Religionsgesellschaft herabzuwürdigen gesucht und hiedurch das Verbrechen der Religionsstörung nach §. 122/d St. G. & das Vergehen gegen die öffentliche Ruhe & Ordnung nach §. 303 St. G., – strafbar nach §.§. 35, 124 St. G., – begangen.«5 Bruno Wille wurde vom Verbrechen der Religionsstörung zwar freigesprochen, aber wegen Herabwürdigung von Lehren, Gebräuchen und Einrichtungen einer im Staat gesetzlich anerkannten Kirche und Religionsgesellschaft zu einer Woche einfachem Arrest und anschließender Ausweisung aus dem österreichischen Staatsgebiet verurteilt. Seine zweimalige Berufung gegen das Urteil wurde zurückgewiesen, sodass Wille schließlich seine Beschwerde »freiwillig« zurückzog. Am 16. Februar 1898 trat er seine Haft im Bezirksgericht Wildon (Steiermark) an, und am 23. Februar verließ er Österreich in Richtung Berlin.
Der Skandal um Bruno Wille hatte bemerkenswerter Weise keine längerfristigen Folgen. Wille hatte zwar weiterhin Bewunderer und Leser in Österreich, doch bildete sich hier keine geschlossene Anhängerschaft heraus.6 Und die Grazer Unabhängigen Socialisten, die es mit Bruno Willes Vortrag und dem anschließenden Prozess kurzzeitig sogar zu Schlagzeilen auf den Titelseiten der Lokalpresse gebracht hatten, konnten die öffentliche Aufmerksamkeit weder unmittelbar noch längerfristig nutzen.
Autor: Reinhard Müller
Version: November 2025
Anarchistische Bibliothek | Archiv | Institut für Anarchismusforschung | Wien
Copyleft
Daten
- 1
Eine frühe Studie zu Bruno Wille (1860–1928) entstand übrigens in Österreich; vgl. Maria Jordan (1893–1955): Die Romane Bruno Willes. (Für den Druck bearbeitet von Prof. Dr. Reinhard Strecker.) Berlin: Neuland-Verlagsgesellschaft 1939, 108 S., zugleich philosophische Dissertation an der Universität Wien 1937, III, 194 Bl. (Maschinschrift). Bearbeiter: Reinhard Strecker (1876–1951).
- 2
Vgl. [anonym]: Die Religion der Freude, in: Arbeiter-Zeitung. Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie. Morgenblatt. Nach der Konfiskation zweite Auflage! (Wien), 9. Jg., Nr. 180 (2. Juli 1897), S. 4. Die Weiterverbreitung der Druckschrift wurde auf Antrag der Staatsanwaltschaft mit Erkenntnis des Landes- als Pressgericht Wien vom 5. Juli 1897 in Österreich verboten.
- 3
Vgl. Bruno Wille (1860–1928): Die Religion der Freude. Vortrag von Dr. Bruno Wille, Sprecher der Freireligiösen Gemeinde zu Berlin. Berlin: In Kommission: A. Hoffmann's Verlag 1898, 15 S.
- 4
Bericht des Polizeikommissärs Michael Papež vom 2. Juli 1897 über den Vortrag von Bruno Wille (1860–1928) im Steiermärkischen Landesarchiv, Graz, 5 Ver-2165/1897. Hier befinden sich die Unterlagen inklusive Anklageschrift, auf denen diese Darstellung beruht. Vereinzelt wurden Informationen auch der Tagespresse entnommen.
- 5
Anklageschrift gegen Bruno Wille (1860–1928), S. 1–2, im Steiermärkischen Landesarchiv, Graz, 5 Ver-2165/1897.
- 6
Hingewiesen sei jedoch auf den österreichischen Zwölftonkomponisten Anton Webern (1883–1945). Noch als Kompositionsschüler schuf er im Sommer 1904 ein Idyll für großes Orchester auf einen Text von Bruno Wille (1860–1928); es war dies eine seiner ersten Kompositionen. Vgl. Anton Webern: Im Sommerwind. Idyll for large orchestra. From the composer’s manuscript in the Moldenhauer Archive. New York, N. Y.: Carl Fischer, Inc. 1966 (= Carl Fischer study score series, orchestral works-chamber music. 26.), 32 S. (Partitur), auch London: Boosey & Hawkes 1966 (= Hawkes Pocket Scores. 786.), 32 S. Die Partitur wurde mehrfach nachgedruckt und wiederholt auf Tonträger zugänglich gemacht. Von Seiten der Anarchisten in Österreich erschien über Bruno Wille zuletzt nur ein Nachruf von [Rudolf Großmann alias Pierre Ramus (1882–1942)]: Bruno Wille dahingeschieden, in: Erkenntnis und Befreiung (Ludwigshafen a. Rh. – Wien – Graz), 10. Jg., Nr. 39 (23. September 1928), S. 3.