Josef Peukert: Die geheimen Diskussionsversammlungen der Wiener Radicalen. August bis Dezember 1883

Josef Peukert

Die geheimen Diskussionsversammlungen der Wiener Radicalen. August bis Dezember 18831

»Während all der hier geschilderten Zwischenereignisse wurde die radikale Bewegung immer größer und stärker. Nicht nur mehrten sich die öffentlichen Versammlungen in allen Orten und Plätzen, die gewöhnlich zum Erdrücken voll waren, auch in allen Fachvereinen herrschte die gleiche rege Agitations- und Kampfesfreude. Dabei machte ich aber die unangenehme Wahrnehmung, daß bei den meisten Rednern immer noch ein sehr großer Mangel an klarem Zielbewußtsein herrschte. Um diesem Übelstande abzuhelfen, veranstaltete ich geheime Diskussionsversammlungen speziell nur für diejenigen Genossen, welche gewöhnlich in öffentlichen oder Vereinsversammlungen das Wort ergriffen.

Nachdem wir zuerst zu einer allgemeinen Besprechung zusammen gekommen, legte ich den Genossen Ursache und Zweck derselben klar und betonte die Notwendigkeit, daß sich auch jeder einzelne Redner über den ›Radikalismus‹, klar sein müsse, den wir vertraten. Mit einigen Schlagworten sei es nicht getan. Es sei eine ganze Weltanschauung, die demselben zu Grunde liege, über welche sich jeder einzelne klar sein solle dann werde auch jeder einzelne im Stande sein, jedem Gegner in der Diskussion seinen Mann zu stehen, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln, wie das nur zu oft vorkomme.

Mein Vorschlag war, einen regelrechten Cyklus freier Diskussionen zu eröffnen, jede Woche wenigstens einmal zusammen zu kommen, gewissermaßen bei dem ABC des Gesellschaftslebens der Menschen zu beginnen, um mit der Reorganisation der Gesellschaft auf der Basis freier Menschen abzuschließen. Begeistert wurde der Vorschlag angenommen. Das Lokal in der inneren Stadt war, bei nöthiger Vorsicht, für solche Zusammenkünfte wie geschaffen. Sofort wurde die Reihenfolge [154] der Themata bestimmt. Gewöhnlich leitete ich die Diskussion darüber ein, doch so, daß ich meine Meinung darüber erst dann abgab, wenn bereits alle anwesenden gesprochen, daß jeder Gelegenheit hatte, seine Meinung zum Ausdruck zu bringen, und erst die Vergleichungen ergaben das Resultat.

Von dem Standpunkte ausgehend, daß zum vollen Verständnis des sozialen Emanzipationskampfes der Gegenwart eine Kenntnis der kulturellen Entwicklung der Menschheit, wenigstens in den allgemeinen Grundzügen, nötig sei, begann ich meine Einleitung mit der Frage: ›Wie hat sich der Mensch in der Natur entwickelt?‹ Dabei führte ich auch ungefähr aus, daß es ein sehr verderbliches Vorurteil von den Genossen sei, sich darüber zu freuen, wenn sich der Partei oder der Bewegung viele Männer aus den ›studierten‹ Kreisen anschlossen. Auch ich wäre früher der Meinung gewesen, daß es ein großer Gewinn für die Bewegung sei, wenn sich irgend ein ›Studierter‹ der Bewegung anschlösse, sei aber durch die Erfahrung dahin belehrt worden, daß es nur in sehr ausnahmsweisen Fällen ein wirklicher Gewinn sei. Die Erklärung dieser scheinbaren Parodoxie [!] sei in dem total verkehrten Unterrichtssystem – in den sogenannten Volksschulen und Universitäten – zu suchen, weil dieselben samt und sonders geistige Dressuranstalten für das Herrschaftsprinzip der jeweiligen Herrschaftsform bilden. In keinem Lande seien die öffentlichen Schulen dazu da, um die geistigen Fähigkeiten zur vollen Entwicklung zu bringen, sondern nach bestimmten Formen zu kneten und zu dressieren. Die Geschichtslehre, oder was als ›Weltgeschichte‹ oder als Geschichte der Menschheit in den Schulen gelehrt würde, gebe eine anschauliche Illustration, ebenso die Kulturgeschichte. In den Volksschulen bildet das Märchen der biblischen Schöpfungsgeschichte immer noch den Ausgangspunkt, während die höheren Schulen in der Geschichte mit all ihren Mythen, Hypothesen und Herrscher-Chronologien keinen wesentlichen [155] Unterschied aufweisen. Die Tatsache, daß sich in den höheren Schulen die ›Geschichte‹ des Altertums im allgemeinen und der Kulturgeschichte im besonderen fast ausschließlich nur um Egypten [!] und Griechenland dreht, die fünf bis sechstausend Jahre zurückreicht, während in Asien (China und das heutige Japan) und den mächtig großen Weltteilen Amerika und Australien, die alle schon tausende und abertausende von Jahren von Menschen bevölkert waren und mit all den ethnologischen Funden beweisen, daß die Geschichte der Menschheit auf hunderttausende von Jahren zurückreicht; all das beweist uns die Jämmerlichkeit der Schulweisheit. Und wenn wir noch aus den Ergebnissen der unabhängigen Forschung schließen müssen, daß die Menschen ungezählte Jahrtausende in enger Gemeinschaft als Freie und Gleiche gelebt haben, und dabei die offizielle Geschichtsschreibung vergleichen, die in den Schulen gelehrt wird, in welcher sich das Leben der Völker fast ausschließlich nur um das Tun und Lassen ihrer Herrscher dreht, so erkennen wir den Zweck solcher ›Schulbildung‹ – die Völker in dem Glauben zu erziehen, daß es immer Herrscher und Beherrschte gegeben hat. Es ist daher für den ›Studierten‹ vielfach schwerer, sich von all den eingepaukten Vorurteilen zu befreien und sich unbefangen den Ideen der Völkeremanzipation zu widmen, als für die weniger Verdorbenen, die Nichtstudierten.

So gingen wir dann von einem Punkt zum anderen, alle Beziehungen des Menschen zur Natur und Gesellschaft erwägend, bis zur modernen Gesellschaft, was der Mensch ist, sein könnte und sollte. Die Fruchtbarkeit dieser wöchentlichen Diskussionen wurde zu unser aller Freude immer deutlicher wahrnehmbar. Das was wir im engen Kreise endgültig diskutiert hatten, wurde wieder Gegenstand der Diskussion in den Vereinen, welche gleichfalls dafür geheime Versammlungen veranstalteten, wozu sich oft hundert und mehr Teilnehmer einfanden. [156]

Als Gesamtresultat kamen wir dabei zu der Überzeugung, daß es notwendig sei, uns sowohl für den endlichen Befreiungskampf, wie auch gleichzeitig für die Übernahme der gesellschaftlichen Funktionen in der Produktion und Consumtion gründlichst vorzubereiten. Dieses Resultat weckte in uns allen – die wir diesen Diskussionen beigewohnt – die Erkenntnis, welche Riesenarbeit noch vor uns lag. Es wurde dabei jedem klar, daß durch eine bloße Änderung der Regierungs- oder Staatsform, ob auf friedlichem oder gewaltsamen Wege durch eine Revolution, noch keine wirklich freie Gesellschaft gegründet sei, solange nicht durch die selbständige Initiative der Volksmassen oder doch einer respektablen Minorität die Garantie geboten sei, erstens, daß das gesamte wirtschaftliche Leben auf der Basis des Kommunismus organisiert werde, welches die Aufgabe der gewerkschaftlichen Organisation sei; und zweitens, daß dies nur auf dem Wege der höchstmöglichen individuellen Selbständigkeit im Denken und Handeln erreicht werden könne, wodurch jedwede Zentralgewalt in der Gegenwart wie Zukunft naturgemäß nur schädlich und hinderlich wirken müsse.

Wir waren dabei ganz von selbst zum Anarchismus gelangt. Als ich dies den beteiligten Genossen sagte, sahen mich viele ganz verwundert an, denn diese Bezeichnung war bis dahin noch niemals gebraucht worden und jeder einzelne erklärte hierauf: ›Nun, dann sind wir eben Anarchisten.‹ Es lag uns aber garnichts an dem Namen. Aus taktischen Klugheitsrücksichten konnten wir diesen Namen ohnehin nicht anwenden, da dies nur für Polizei und Staatsanwaltschaft Grund für noch härtere Verfolgungen geboten hätte, während auf der anderen Seite die Arbeitermassen erst noch durch fortgesetzte, gründliche Propaganda dazu vorbereitet werden mußten. Auch darüber waren wir uns alle einig.

Überhaupt waren diese Diskussionen eine Art freie Schule, wo jeder seine Gedanken und Meinungen ungehindert, ›wie ihm der Schnabel gewachsen‹, zum [157] Ausdruck bringen konnte, solange er zur vorliegenden Frage sprach. Und über jede einzelne Frage wurde so lange diskutiert, so lange irgend einer der Anwesenden einen Zweifel oder eine Einwendung hatte; erst dann wurde das Thema als erledigt betrachtet und das Nächste zur Diskussion eingeleitet.

Diese Diskussionen waren nach meiner Ansicht geradezu eine Musterakademie für Arbeiter-Agitatoren, über die ich heute noch bei der Erinnerung Freude empfinde. Leider wurden dieselben, mit vielem anderem Guten, durch Ereignisse viel zu früh gestört. Dabei war das geradezu wunderbare, daß diese Zusammenkünfte, die während fünf Monaten jede Woche einmal von 30 bis 40 Personen besucht wurden, auch nicht ein einziges Mal von der Polizei gestört wurden. Und dies, trotzdem die meisten Teilnehmer gewissermaßen unter beständiger Polizeiaufsicht waren. Diese Vorsicht der Teilnehmer allein beweist, welches Interesse dafür gehegt wurde, denn es war durchaus nicht immer so leicht, sich der Aufsicht zu entziehen, und öfter konnte der eine oder der andere nicht erscheinen, weil er unterwegs die ›Spitzel‹ nicht los werden konnte. Am meisten kostete es mich selbst Mühe, denn ich wurde Tag und Nacht von einer ganzen Bande bewacht, aber meine flinken langen Beine und manchmal eine kurze Droschkenfahrt halfen mir stets, wenn auch hie und da verspätet unbeachtet an Ort und Stelle zu kommen.«

Daten
von
August 1883
bis
Dezember 1883
  • 1

    Josef Peukert (1855–1910): Erinnerungen eines Proletariers aus der revolutionären Arbeiterbewegung. Berlin: Verlag des Sozialistischen Bundes 1913, S. 153–157.