02.05.02. Erste Freie Presse Cisleithaniens. Nr. 2. Reaction – Revolution. 1883

Erste Freie Presse Cisleithaniens1

 

Nr. 2. REACTION – REVOLUTION. Mai 1883.
 

Das sind heute die beiden Strömungen, welche den Ozean des socialen Lebens in Bewegung setzen. Das gefürchtete rothe Gespenst verfolgt bei Tag und Nacht die Unterdrücker, Volksblutsauger und ihre Schergen ohne Rast und Ruh, ihr eigenes, fluchbeladenes Gewissen treibt sie zu immer neueren Schandthaten, um der Welt zu zeigen, dass sie sich nicht fürchten. In Russland werden zu Ehren eines wahnsinnigen Tyrannen täglich Hunderte von Personen gehenkt oder lebenslänglich in den Bleibergwerken Ribiriens2 begraben. In England ist der Henker in voller Thätigkeit, um die Kämpfer für die Freiheit des irischen Volkes in’s bessere Jenseits zu befördern. In Frankreich werden die edelsten Volksmänner von blutrünstigen Volksbetrügern in dumpfe Kerker geschleppt und so geht es in allen Ländern und Staaten, wo das Volk seine Freiheit fordert. Das ist die schwarze Reaction im Kampfe gegen die Freiheit. Das sind die sicheren Vorboten der herannahenden Revolution. Auch bei uns in Oesterreich wird es Zeit, dass das enterbte Volk, der vierte Stand, daran denkt, sich seiner Macht zu erinnern, um sich endlich von dem schweren Joch seiner Peiniger zu befreien. Schaut euch um, ihr Armen, die ihr von Sorge und Hunger geplagt, um das trockene Brod kämpft, euch jahraus, jahrein schinden und quälen lassen müsst, um für eine kleine Minderzahl von privilegirten Tagedieben Genüsse aller Art in Ueberfluss zu schaffen, wofür man uns in rechtem Uebermuth mit Füssen tritt. Schaut euch um ihr fleisigen und rechtschaffenen Arbeiter, wie unser Schweiss und Blut von unseren Ausbeutern bei Huren und Champagner verjubelt werden, während wir unseren Kindern nicht genug Brod geben können. Sieh dir die Paläste und glänzenden Equipagen an, wo die Früchte unserer Arbeit in frevelndem Leichtsinn verschwendet werden, während wir müd und entkräftet nach gethaner Arbeit kaum Raum und Stroh zu einer Lagerstätte haben.

Alles! Alles wird durch unsere Arbeit geschaffen, und Alles wird uns durch gesetzlichen Raub und Plünderung genommen. Wenn man uns nichts mehr auspressen kann, wenn wir uns zu Krüppeln geschunden haben, dann stiehlt man uns noch die Ehre, indem wir gleich gemeinen Verbrechern in’s Zuchthaus gesteckt werden, im Falle wir nicht vorziehen, in den Wellen eines Flusses oder sonst wie unserem elenden Leben ein Ende zu machen.

Dagegen wird derjenige, der das Volk am meisten betrügt und unterdrückt, mit Titeln und Orden geschmückt. Solche Zustände, Arbeiter Oesterreichs, müssen aufhören. Von der Regierung oder den herrschenden Klassen haben wir nichts zu erwarten, wenn wir uns nicht selbst helfen. Heute wollen die Junker und Pfaffen den Geist der Aufklärung im Volke unterdrücken, um die „schönen Zeiten“ des Concordats, des Pfaffen-Regiments wieder herzustellen.

Das bischen gesunde Menschenverstand soll durch Pfaffen im Keime erstickt, jede freie Meinungäuserung soll durch jeden schuftigen Polizeibüttel unterdrückt werden. Man weiss da nicht, ist die herrschende Klasse oder die charakterlosen Werkzeuge schlechter. Jedenfalls verdienen sie alle den Strick. Nicht nur der Moloch Kapital saugt uns das Mark aus den Knochen, auch der Staat mit seinen Millionen Ausgaben für Staatsbumrnler, als: Generals, Prinzen, Minister Hofräthe und ihrer ganzen Sippschaft, die drum und dran hängen. Natürlich ist dieses Gelichter nicht besonders gut auf das Volk, welches sie als nützliche Melkkuh betrachten, zu sprechen, und sind stets Reactionäre, da das Volk bereits denken gelernt und den ganzen Regierungs- und Staatsschwindel kennt, d.h. dieser göttlichen Menschenquälerei ein Ende zu machen gedenkt, so hat diese Drohnenrace bereits eine namenlose Angst vor der wohlverdienten Züchtigung, welche sie bei der »grossen Abrechnung« für ihre Mühe, das Volk zu knechten und auszubeuten, erhalten werden. In der grossen Comödienbude am Schottenthor ist diese Woche ein neues Cassastück, das heisst, eine Comödie, die recht viel Gewinn bringen soll, gespielt worden.3 Die Herren von der »hohen» Aristokratie und der römischen Klerisei haben auf einmal einen neuen Sport entdeckt, nämlich unter der heuchlerischen Maske für den »armen Mann« etwas zu thun, wurde eine Gewerbe-Enquete einberufen, um die Gutachten der Herren Ausbeuter und der Ausgebeuteten zu hören, ob es besser sei, wenn den Arbeitern in 10 oder 16 Stunden die Haut über die Ohren und das Mark aus den Knochen gezogen werde, ob die Frauen, Kinder, in der Arbeit oder ohne Arbeit verhungern sollen. Natürlich amüsiren sich die Herren köstlich über die Dummheit der Arbeiter, dass sie immer noch am Leim gehen, wenn auch nicht, wie gewünscht, alle »picken» bleiben, sondern mit sammt der Leimruthe davon fliegen, so thut dies nichts zur Sache, einige bleiben doch »gern« picken, sitzt es sich doch so bequem in roth gepolsterten Stühlen. Die Herren »vom Sport« haben ihren Zweck erreicht und lachen sich in’s Fäustchen. So, Arbeiter, werden wir gefoppt und müssen für das Ganze die Kosten zahlen. Obwohl wir diejenigen tadeln müssen, welche sich immer als die »Radikalen« geberden und doch an dieser Comödie theilgenommen, so können wir das Volk nicht genug von diesen Wölfen im Schafspelz warnen. Dahinter steckt sicher irgend ein Teufelsspuck. Auf der einen Seite betrügt man das Volk um seine heiligsten Rechte, auf der Andern will man uns einen abgenagten Knochen hinwerfen, jedenfalls um ihre reactionären Zwecke und Unterdrückungsmassregeln zu maskiren. Darum, Arbeiter, rufen wir euch zu: Lasst euch nicht durch schöne Phrasen und heuchlerische Grimassen täuschen. Wenn wir zu unseren Rechten gelangen wollen, müssen wir uns dieselben erkämpfen.

Die Bourgeoisie und das ganze Geld- und Adelsprotzenthum, mit den Seligkeitskrämern an der Spitze haben nur das eine Interesse, aus der Arbeit des Volkes den grösstmöglichsten Nutzen zu ziehen. Um was sie sich höchstens sonst noch kümmern ist, dass unsere Race nicht ausstirbt, weil sie sonst selbst arbeiten müssten. Noch zwingt uns der Hunger, uns als Lohnsklaven den ersten besten Geldprotzen verkaufen zu müssen. Noch müssen wir uns von jedem Polizeibüttel als Verbrecher behandeln lassen, wenn wir die Rechte des Volkes, des vierten Standes, vertheidigen. Aber bereits dämmert das Morgenlicht unserer Freiheitstonne am politischen Horizont.

Mögen sich die Tyrannen und Volksausbeuter der ganzen Erde zu einer Friedens???Allianz verbünden, um die nach Freiheit strebenden Völker mit Gewalt zu unterdrücken, es soll ihnen nicht gelingen, wenn das arbeitende Volk einig und zielbewusst ein donnerndes »Halt«, entgegenrufen werden.

Drum pflanzt den Hass in eure Herzen gegen Alles, was schlecht und ungerecht, gegen unsere Tyrannen, Grosse wie Kleine, gegen alle Ausbeuter, welche sich von dem Schweiss und Blut fleissiger Arbeiter mästen, endlich gegen alle Jene, welche im Dienste der Tyrannen das Volk verdummen, und durch Schergendienste unterdrücken helfen.

Es lebe die sociale Revolution!!!

  • 1

    Erste Freie Presse Cisleithaniens. Nr. 2. Reaction – Revolution. [Inzersdorf (Wien)]: [Johann Ehn und Franziska Faber] 1883, 1 Blatt. Die Weiterverbreitung der Druckschrift wird mit Erkenntnis des Landes- als Pressgericht Wien vom 18. Mai 1883 in Österreich verboten.

  • 2

    Recte Sibirien. Anmerkung Reinhard Müller.

  • 3

    Gemeint ist die Enquete »Über die Arbeitergesetzgebung« (►30. April bis 8. Mai 1883). Anmerkung Reinhard Müller.