Prinzipien-Erklärung der Internationalen Arbeiter-Association. (Amerikanische Föderation.) Pittsburgh, am 16. Oktober 1883

Prinzipien-Erklärung der Internationalen Arbeiter-Association. (Amerikanische Föderation.)1
»Die heutige sogenannte ›Ordnung‹ ist begründet auf Ausbeutung der Besitzlosen durch die Besitzenden.

Diese Ausbeutung besteht darin, daß die Besitzenden die Besitzlosen durchschnittlich um den Preis der bloßen Existenzunkosten (Lohn) kaufen und alles, was durch Anwendung derselben über diesen Betrag an Neuwerten (Produkten) geschaffen wird, für sich in Anspruch nehmen, d. h. stehlen.

Da die Besitzlosen wegen ihrer Armut gezwungen sind, ihre Arbeitskraft den Besitzenden zum Kauf anzubieten; und da die heutige Großproduktion es mit sich bringt, daß die technische Entwicklung mit riesiger Geschwindigkeit von statten geht, so daß unter Anwendung von immer weniger menschlichen Arbeitskräften immer größere Warenmengen erzeugt werden, so nimmt das Angebot von Arbeitskräften stetig zu, während die Nachfrage sich verringert. Das ist der Grund, weshalb die Arbeiter im Selbstverkauf immer stärker gegen einander konkurrieren, wodurch die Löhne fort und fort sinken, mindestens aber über jenen Betrag, der zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit absolut notwendig ist, durchschnittlich nicht hinaus gelangen.

Während auf solche Weise den Besitzlosen jede Möglichkeit, in die Reihen der Besitzenden sich emporzuarbeiten, selbst der aufreibendsten Tätigkeit ungeachtet, vollkommen abgeschnitten ist, werden die Wohlhabenden vermöge der immer stärkeren Beraubung der arbeitenden Klasse in stetig zunehmendem Maße reicher, ohne daß sie irgendwie produktiv zu sein brauchen.

Sind aber wirklich einige ehemalige Arbeiter zu Vermögen gelangt, so haben sie das nicht ihrer eigenen Arbeit zu verdanken, sondern nur sehr zufälligen und seltenen Gelegenheiten zur Spekulation auf die Arbeit anderer. Mit der Zunahme des individuellen Vermögens steigt die Habgier der Besitzenden. Sie konkurrieren unter sich um den Raub an den Volksmassen mit allen Mitteln. In diesem Kampfe unterliegen durchschnittlich die mäßig Begüterten, wohingegen die eigentlichen Großkapitalisten ihre Reichtümer bis ins Ungeheuerliche anschwellen, ganze Produktionszweige nebst Handel und Verkehr in ihren wenigen Händen konzentrieren und zu Monopolisten sich entwickeln.

Die Vermehrung der Produkte bei gleichzeitiger Verringerung des Durchschnittseinkommens der arbeitenden Volksmassen führt von Zeit zu Zeit zu sogenannten Geschäfts- und Handelskrisen, welche das Elend der Besitzlosen auf die Spitze treiben. Die Statistik der Vereinigten Staaten von Nordamerika zeigt, daß nach Abzug des Rohmaterials, der Kapitalszinsen usw. die besitzenden Klassen mehr als fünf Achtel aller Produkte für sich in Anspruch nehmen und höchstens drei Achtel derselben den Arbeitern überlassen. Da nun aber die besitzende Klasse sehr wenig zahlreich ist, so vermag sie ihren ›Profit‹ durchaus nicht zu [147] verbrauchen, und da die Arbeiter nicht mehr konsumieren können, als sie erhalten, so tritt von Zeit zu Zeit sogenannte ›Ueberproduktion‹ ein.

Außerdem bringt es die zunehmende Ausmerzung von Arbeitskräften aus dem Produktionsprozeß mit sich, daß ein jährlich steigender Prozentsatz der besitzlosen Bevölkerung total verarmt und dem ›Verbrechen‹, der Vagabundage, der Prostitution, dem Selbstmord, dem Hungertode und der mannigfaltigsten Verkommenheit in die Arme getrieben wird.

Dieses System ist ungerecht, wahnwitzig und raubmörderisch. Deshalb ist dessen gänzliche Zerstörung mit allen Mitteln und größter Energie seitens eines jeden Menschen, der darunter leidet und durch seine Untätigkeit wider dasselbe nicht für dessen Fortbestand mitverantwortlich sein will, anzustreben. An dessen Stelle ist die wirkliche Ordnung zu setzen.

Diese kann nur hergestellt werden, wenn alle Arbeitsinstrumente, Grund und Boden und sonstige Bedingnisse der Produktion, kurzum das ganze durch Arbeit erzeugte Kapital in gesellschaftliches Eigentum verwandelt wird. Denn nur unter dieser Vorbedingung ist jede Möglichkeit zu weiterer Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abgeschnitten. Nur vermittelst gemeinsamen unzerteilbaren Kapitals können alle in den Stand gesetzt werden, die Früchte gemeinsamer Tätigkeit voll und ganz zu genießen. Nur bei der Unmöglichkeit, individuell (privatim) Kapital zu erwerben, ist jeder gezwungen, zu arbeiten, wenn er einen Anspruch aufs Leben erheben will.

Weder Herrschaft noch Knechtschaft werden künftighin in der menschlichen Gesellschaft existieren.

Diese Ordnung der Dinge bringt es auch mit sich, daß je nach dem Bedarfe der Gesamtheit produziert wird, und daß keiner mehr als etliche Stunden des Tages zu arbeiten braucht, alle aber dennoch im reichsten Maße alle ihre Bedürfnisse zu befriedigen vermögen. Damit ist auch Zeit und Gelegenheit gegeben, die denkbar höchste Bildungsmöglichkeit dem ganzen Volke zu erschließen, d. h. mit den Privilegien der Geburt und des Vermögens auch die Vorrechte höheren Wissens auszumerzen.

Der Herstellung eines solchen Systems stehen vor allem die politischen Organisationen der kapitalistischen Klassen – mögen sich dieselben Monarchien, oder Republiken nennen – im Wege. Diese politischen Gebilde (Staaten), welche ganz und gar in den Händen der Besitzenden sich befinden, haben augenscheinlich keinen anderen Zweck, als den der Aufrechterhaltung der heutigen Ausbeutungs-Unordnung.

Die Gesetze kehren ihre Spitzen samt und sonders gegen das arbeitende Volk. So weit das Gegenteil der Fall zu sein scheint, dienen sie einerseits dazu, den Arbeitern Sand in die Augen zu streuen, andererseits werden sie von den herrschenden Klassen einfach umgangen.

Die Schule selbst ist nur dazu da, um die Sprößlinge der Reichen mit jenen Eigenschaften auszustatten, welche nötig sind, ihre Klassen[148]herrschaft aufrecht zu erhalten. Den Kindern der Armen wird kaum formale Elementarbildung beigebracht, diese aber des weiteren auf Lehrgegenstände hingelenkt, welche nur den Zweck haben, Dünkel, Vorurteil, Knechtsinn, kurzum Unverstand zu erzeugen.

Die Kirche vollends sucht die Volksmassen durch den Hinweis auf einen erdichteten Himmel den Verlust des Paradieses auf Erden verschmerzen zu lassen. Die Presse hingegen sorgt für die Verwirrung der Geister im öffentlichen Leben.

Alle diese Institutionen, weit entfernt, der Volksaufgabe zu dienen, haben die Aufgabe, das Volk nicht zu Verstand kommen zu lassen. Sie stehen vollkommen im Solde und unter der Botmäßigkeit der kapitalistischen Klassen. Die Arbeiter haben somit von keiner anderen Seite in ihren Kämpfen gegen das bestehende System Hilfe zu erwarten. Sie müssen ihre Befreiung durch eigne Kraft erringen.

So wenig als in früheren Zeiten je eine bevorrechtete Klasse ihre Tyrannei aufgegeben hat, so wenig ist anzunehmen, daß die Kapitalisten der Neuzeit auf ihre Privilegien und Herrschaft verzichten, ohne daß sie dazu gezwungen werden. Wenn es darüber je einen Zweifel hätte geben können, so würden die Brutalitäten, welche sich die Bourgeoisie aller Länder – in Amerika wie in Europa – gegenwärtig fort und fort zuschulden kommen läßt, so oft es sich irgendwo Proletarier in den Sinn kommen lassen, an eine Verbesserung der Lage energisch heranzutreten. wahrlich genug Klarheit verbreitet haben.

Damit ist nur selbstverständlich, daß der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie einen gewalttätig revolutionären Charakter haben muß, und daß bloße Lohnkämpfe nicht zum Ziele führen.

Wir könnten durch zahlreiche Illustrationen zeigen, daß alle Versuche, welche in der Vergangenheit gemacht wurden, das heutige ungeheuerliche Gesellschaftssystem durch friedliche Mittel, wie z. B. durch den Stimmkasten, zu beseitigen, ganz nutzlos waren und mithin auch in der Zukunft bleiben müssen, und zwar aus folgenden Gründen: Die politischen Institutionen unserer Zeit sind nur Machtmittel der besitzenden Klassen; deren Zweck besteht lediglich in der Aufrechterhaltung der Vorrechte Eurer Ausbeuter; jede Reform zu Euren Gunsten würde diese Privilegien verkürzen; dazu können die Privilegierten nicht ihre Zustimmung geben, denn das wäre für sie Selbstmord! Wir wissen also, daß die herrschenden Klassen nicht freiwillig auf ihre Vorrechte verzichten und uns keine Konzessionen machen werden. Unter diesen Umständen bleibt nur ein Mittel übrig – die Gewalt!

Unsere Vorfahren (die Freiheitskämpfer von 1776–81) haben uns nicht nur gelehrt, daß gegen Tyrannen die Gewalt gerechtfertigt und das einzige Abhilfsmittel ist, sondern sie haben uns in dieser Beziehung selbst ein unsterbliches Beispiel gegeben. Durch Gewalt haben sich unsere Vorfahren von ihren fremden Unterdrückern befreit, und durch Gewalt haben sich auch deren Nachfolger von der einheimischen Unterdrückung frei zu machen. [149]

Darum ist es Euer Recht, ist es Eure Pflicht – sagt Jefferson –, Euch zu bewaffnen!

Agitation behufs Organisation; Organisation zum Zwecke der Rebellion, darin sind in wenigen Worten die Wege gekennzeichnet, welche die Arbeiter einzuschlagen haben, wenn sie ihrer Ketten ledig werden wollen. Und da die Lage der Dinge in allen Ländern der sogenannten ›Kultur‹welt die gleiche ist; da ferner die Regierungen aller Monarchien und Republiken vollkommen Hand in Hand arbeiten, wenn es sich darum handelt, gegen die Bestrebungen des denkenden Teiles der Arbeiter Front zu machen; da endlich auf den Sieg des arbeitenden Volkes nur dann zuversichtlich gerechnet werden kann, wenn die Proletarier den Entscheidungskampf gegen ihre Unterdrücker gleichzeitig auf der ganzen Linie der bürgerlichen (kapitalistischen) Gesellschaft in Szene setzen, so ist die internationale Völkerverbrüderung, wie sie in der Internationalen Arbeiter-Association ihren Ausdruck findet, ganz von selbst als eine Notwendigkeit gegeben.

Was wir erstreben, ist somit einfach und klar:

1. Zerstörung der bestehenden Klassenherrschaft mit allen Mitteln. d. h. durch energisches, revolutionäres und internationales Handeln.

2. Errichtung einer auf genossenschaftlicher Organisation der Produktion beruhenden freien Gesellschaft.

3. Freier Austausch der gleichwertigen Produkte durch die produktiven Organisationen selbst und ohne Zwischenhandel und Profitmacherei.

4. Organisation des Erziehungswesens auf religionsloser, wissenschaftlicher und gleichheitlicher Basis für beide Geschlechter.

5. Vollkommene Gleichberechtigung aller ohne Unterschied von Geschlecht und Rasse.

6. Regelung aller öffentlichen Angelegenheiten durch freie Gesellschaftsverträge der autonomen (unabhängigen) Kommunen und Genossenschaften.

Wer diesem Ideale zustimmt, der schlage ein in unsere dargereichten Bruderhände!

Mitarbeiter! Alles, was wir zur Bewerkstelligung dieses großen Werkes benötigen, ist Organisation und Einigkeit! Es existiert kein großes Hindernis gegen eine solche Vereinigung. Aufklärung und Verschwörung können nebeneinander vonstatten gehen.

Der Tag der Solidarität ist gekommen. Lasset den Schlachtruf ertönen: Proletarier aller Länder, vereinigt Euch! Ihr habt nichts zu verlieren als Eure Ketten; Ihr habt eine Welt zu gewinnen!

Zittert, Ihr Tyrannen der Erde! Nicht weit vor Euren blinden Augen steigt empor das Morgenlicht des Tages der Entscheidung und Gerechtigkeit!

Pittsburg, den 16. Oktober 1883.

Der Internationale Sozialisten-Kongreß.«

Daten
von
16. Oktober 1883
bis
16. Oktober 1883