02.02.01. Die revolutionäre Socialdemocratie. London [1880]
Die revolutionäre Socialdemocratie1
Zwei Lager zerklüften die Welt. Auf der einen Seite stehen die besitzenden Classen, ausgestattet mit der vollendetsten Allgewalt auf jedem Gebiete von Staat und Gesellschaft. Auf der anderen Seite steht die Arbeiterschaft – besitzlos und rechtlos.
Bei Ersteren führt den Vormarsch die Bourgeoisie, welche sich im Laufe der geschichtlichen Entwickelung, und zwar auf revolutionärem Wege, zur Hauptmacht der Welt aufgeschwungen hat. Mit dem mittelalterlichen Herrschaftsplunder hat sie gründlich aufgeräumt; was sie an dessen Stelle setzte, kann für die Volksmassen wenig Befriedigung gewähren.
Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen »natürlichen Vorgesetzten« knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose »baare Zahlung.« Sie hat die »heiligen Schauer« der frommen Schwärmerei der »ritterlichen« Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmuth in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwerth aufgelöst. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, directe, dürre Ausbeutung gesetzt. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft, in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt. Sie hat der Familie ihren »rührend-sentimentalen Schleier abgerissen« und sie auf ein reines Geldverhältniß zurückgeführt.
Die Bourgeoisie, zur Herrschaft gekommen durch eine großartige Umgestaltung der Dinge, kann nicht existiren, ohne fortwährend neue Umgestaltungen vorzunehmen. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von »altehrwürdigen« Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern [2] können, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.
Das Bedürfniß nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Producte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Ueberall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Sie hat die Production und Consumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet.
Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen; sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grate vermehrt und so einen bedeutenden Theil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen. Sie hebt mehr und mehr die Zersplitterung der Productionsmittel, des Besitzes und der Bevölkerung auf. Sie hat die Bevölkerung zusammengedrängt, die Productionsmittel aufgehäuft und das Eigenthum in wenigen Händen vereinigt.
Aber seit Jahrzehnten ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empörung der heutigen Productionskräfte gegen die jetzigen Productionsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind. Es genügt, die Handelskrisen zu nennen, welche in ihrer regelmäßigen Wiederkehr immer drohender die Existenz der ganzen Gesellschaft in Frage stellen. Dieselbe findet sich plötzlich in einen Zustand augenblicklicher Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnoth, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zu viel Civilisation, zu viel Industrie, zu viel Handel besitzt etc. – – Und wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Productionskräften, andererseits durch die Eroberung neuer Märkte, also dadurch, daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert. –
Aber die Bourgeoisie hat solchermaßen nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die »Arbeiter« der Neuzeit; die Proletarier! [3]
Je weiter sich die Wirtschaft der Bourgeoisie erstreckt, desto zahlreicher wird die Classe der Arbeiter, welche nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Capital vermehrt. Diese Arbeiter, die sich stückweise verkaufen müssen, sind eine Waare, wie jeder andere Handelsartikel, und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Concurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.
Die Arbeit der Proletarier hat durch die Ausdehnung der Maschinerie und die Theilung der Arbeit allen selbstständigen Character und damit allen Reiz für die Arbeiter verloren. Der Proletarier wird ein bloßes Zubehör der Maschine, von dem nur der einfachste, eintönigste, am leichtesten erlernbare Handgriff verlang wird. Die Kosten, die der Arbeiter verursacht, beschränken sich daher fast nur auf die Lebensmittel, die er zu seinem Unterhalt und zur Fortpflanzung seiner Race bedarf.
Die Arbeiter sind übrigens nicht nur Knechte der Bourgeoisclasse, sie sind täglich und stündlich geknechtet von der Maschine, vom Aufseher und vor allem von den einzelnen Fabrikanten selbst. Diese Despotie ist umso kleinlicher, gehässiger, erbitternder, je offener sie den Erwerb als ihren hohen Zweck proclamirt.
Ist die Ausbeutung des Arbeiters durch den Fabrikanten so weit beendet, daß Ersterer seinen Arbeitslohn baar ausbezahlt erhält, so fallen die anderen Theile der Bourgeoisie über ihn her, der Hausbesitzer, der Krämer, der Pfandleiher u.s.w. Das führt ganz von selbst zur schroffsten Feindseligkeit der Arbeiter gegen das Ausbeuterthum.
Mit der Entwicklung der Bourgeoisie entwickelt sich nicht nur das Proletariat, es wird in größeren Massen zusammengedrängt. seine [!] Kraft wächst und es beginnt, sie zu fühlen. Immer mehr nehmen die Zusammenstöße zwischen dem einzelnen Arbeiter und dem einzelnen Bourgeois den Character von Zusammenstößen zweier Classen an.
Diese Organisation der Proletarier zur Classe, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Concurrenz unter den Arbeitern selbst. Aber sie ersteht immer wieder, stärker, fester, mächtiger. [4]
Von allen Classen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüber stehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Classe. Die Mittelstände sind reactionär. Sind sie aber revolutionär, so sind sie es im Hinblick auf den ihnen bevorstehenden Uebergang ins Proletariat, so vertheidigen sie nicht ihre gegenwärtigen, sondern ihre zukünftigen Interessen, so verlassen sie ihren eigenen Standpunkt, um sich auf den des Proletariats zu stellen.
Das Proletariat, die unterste Schicht der heutigen Gesellschaft, kann sich nicht erheben, ohne daß der ganze Ueberbau der Schichten, die die »vornehme Gesellschaft« bilden, in die Luft gesprengt wird.
Diese Zuversicht will natürlich Vielen, welche sich zur herrschenden Classe bekennen, nicht behagen, weshalb sie denn ihre Köpfe anstrengen, um einen anderen Ausweg zu finden. Sociale Quacksalber tauchen so allerwegs auf, theils getragen vom engherzigsten Interesse und dem infamsten Jesuitismus, theils geleitet von der flachsten Bornirtheit und dem dümmsten Vorurtheil.
Da sind in erster Linie jene Aristokraten hervorzuheben, welche angeblich für sociale Reformen schwärmen, in Wirklichkeit aber nur ihren Nebenbuhlern in der Volksaussaugung, den Capitalisten, Schwierigkeiten bereiten wollen. Sie haben nichts daran auszusetzen, daß die jetzige Classenherrschaft eine unerhörte Massenverarmung hervorgerufen hat, sondern sie zetern nur darüber, daß diese Massenarmuth die Arbeiterschaft revolutionär macht. Darum nehmen sich auch an allen Gewaltmaßregeln gegen die Arbeiter Theil, und im gewöhnlichen Leben bequemen sie sich, allen ihren aufgeblähten Redensarten zum Trotze, die goldenen Aepfel des Profitmachens aufzulesen und Treue, Liebe, Ehre etc. mit dem Schacher in Schafswolle, Runkelrüben und Schnaps zu vertauschen.
Die sogenannten »Christlich-Socialen« sind nur eine Abart dieser Heuchler. Der christliche Socialismus ist sozusagen das Weihwasser, womit der Pfaffe den Aerger der Aristocratie über die Neuzeit einsegnet.
Ebenso reactionär, wie die Bestrebungen dieser Betrüger, sind auch die Hirngespinnste der kleinbürgerlichen Social-Reformer, denen im Wesentlichen nur die Rückkehr zur Zünftlerei und ähnlichen [5] Einrichtungen vorschwebt. Sie predigen gewöhnlich nur tauben Ohren und sind darum ungefährlicher, als die übrigen Sorten dieser Gattung.
Eine dritte Gruppe bildet jener hirnlose Troß von Philosophen und Schöngeistern, welcher sich in verschwommenen Phrasen über die Unvollkommenheit der Welt gefällt.
Ihr System diente seiner Zeit nur den deutschen absoluten Regierungen mit ihrem Gefolge von Pfaffen, Schulmeistern, Krautjunkern und Bureaukraten als erwünschte Vogelscheuche gegen die Bourgeoisie und bildet jetzt noch die süßliche Ergänzung zu den bitteren Peitschenhieben und Flintenkugeln, womit die Machthaber die deutschen Arbeiter zu behandeln pflegen, wenn sie nach Brot rufen.
Viertens giebt es in den Kreisen der Bourgeoisie Leute genug, welche die Gesellschaft ausflicken, aber ja nichts an deren Grundlage verrücken wollen. Hierher gehören die National-Oeconomen, Philantropen, Humanitäre, Verbesserer der Arbeiterlage, Wohlthätigkeits-Organisirer, Abschaffer der Thierquälerei, Mäßigkeits-Vereinler und Winkelreformer der schmierigsten Art.
Es giebt Arbeiter genug, welche sich von der einen oder der anderen Seite dieser Auch-Socialisten eine Weile gängeln lassen. Und in so reactionären Epochen, wie die gegenwärtige ist, werden alle derartigen Bestrebungen von den Regierungen systematisch gehegt und gepflegt; in Deutschland legt man dafür zur Zeit förmliche Pflanzschulen an. Stieber, Wagner, Bucher, Stöcker und viele Andere könnten Genaueres darüber erzählen.
Wir aber müssen gerade jetzt vor solchem Geschmeiß sehr eindringlich warnen; denn es schickt seine Sendlinge mit Vorliebe in solche Arbeiterkreise, welche soeben im Begriffe stehen, communistische Gedanken zu bekommen. Man weise diesen Muckern die Thüren, wenn man nicht betrogen sein will.
Was wollen nun aber die Communisten (die revolutionären Socialisten)? Dieselben sind nicht etwa, wie Manche glauben, socialpolitische Kleinkrämer der Zukunft, welche sozusagen ein bis ins Kleinste hinein ausgearbeitetes Modell zu einer künftigen Gesellschaft [6] umherzeigen denn sie sind sich bewußt, daß die spätere Gestaltung der Dinge nicht in einzelnen Köpfen im Speciellen ausgeklügelt werden kann, sondern daß nur bestimmte Grundsätze betreffs der vorzunehmenden Gesellschaftsumgestaltung aufgestellt werden können.
In dieser letzten Beziehung aber ziehen die Communisten die schärfsten Schlüsse und vermeiden jede Halbheit. Indem sie die capitalistische Classe im Alleinbesitze der Macht wissen, und indem sie die Schäden, welche aus dieser Classenherrschaft resultiren, kennen, sind sie überzeugt, daß daran kleinliche Reformen nichts zu ändern vermöchten.
Sturz der Bourgeoisherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiter, Aufhebung des Privateigenthums – das sind deshalb bei allen ihren Handlungen ihre ersten und letzten Worte.
Damit wird eine Revolution angekündigt, welche mit den bisherigen Eigenthumsverhältnissen total aufräumen will. Vorbedingung hiezu ist die politische Herrschaft des arbeitenden Volkes. Ist diese begründet, so kann freilich auch nicht mit einem Schlage der Communismus eingeführt werden, doch lassen sich Maßregeln ergreifen, welche immerhin in verhältnißmäßig kurzer Zeit dieses Ziel erreichbar machen.
Wesentlich werden dabei etwa folgende Satzungen ins Auge zu fassen sein:
Herstellung des Gemeineigenthums am gesammten Grund und Boden und allen Capitalien, resp. Zurücknahme derselben durch das Volk.
Gleicher Arbeitszwang für Alle.
Organisation aller Arbeiter eines jeglichen Industriezweiges zum Behufe der Waarenerzeugung mit vereinten Kräften.
Vereinigung des Betriebes von Ackerbau und Industrie. Hinwirken auf allmälige Beseitigung von Stadt und Land durch Centralisation des Ackerbaues und ähnlicher Maßnahmen. [7]
Oeffentliche, gleiche und unentgeltliche Erziehung der Jugend unter Vereinigung der geistigen mit der gewerblichen Ausbildung u. s. w. u. s. w.
Sind einmal diese und ähnliche Dinge durchgeführt, dann kann auch von einer Classenherrschaft der Arbeiter keine Rede mehr sein, weil inzwischen den übrigen Classen die materielle Basis unter den Füßen fortgenommen, deren Fortexistenz also unmöglich gemacht wurde. An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Classen und Classen-Gegensätzen tritt eine Vereinigung freier und gleicher Menschen, von denen der Einzelne seine Interessen nur fördern kann, indem er Allen dient, die wiederum desto mehr Vortheile genießen, je leistungsfähiger sie den Einzelnen gestalten.
Da aber ein solch’ harmonisches Verhältniß nur durch eine totale Umwälzung des Bestehenden erreicht werden kann, so sind die Communisten vollkommen revolutionär gesinnt, und sie unterstützen jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände, wobei sie aber nie vergessen, die Eigenthumsfrage als die wichtigste aller Fragen hervorzuheben. Um den Sieg ihrer Sache leichter erlangen zu können, arbeiten sie eifrig auf die engste Verbindung der social-revolutionären Parteien aller Länder hin.
Die Communisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Gewalten vor einer communistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben in ihr nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.
Proletarier aller Länder vereinigt Euch! [8]
Der vorstehende Aufsatz ist im Wesentlichen dem Communistischen Manifest entnommen, jener Schrift, die neuerdings von den »Vereinigten Socialisten« zur principiellen Richtschnur gewählt wurde. Der Sitz dieser Corporation ist dessen Muttersection, der Communistische Arbeiter-Bildungs-Verein von London (6, Rose Street, Soho Square, W.). Man correspondirt damit von Deutschland und Oesterreich aus durch Vermittelung im Auslande wohnender bewährter Genossen.
Organ dieses Socialistenverbandes ist die »Freiheit«. Dieselbe kann durch J. NEVE, 22, Percy Street, Tottenham Court Road, W. London, (ebenfalls unter Vermittelung auswärtiger Freunde bezogen werden). Sie kostet bei Zusendung unter Couvert pr. Quartal 4 Mark.
Derartige Flugschriften giebt man von Hand zu Hand und läßt sich stets neue senden. Opferwillige Genossen mögen zur Herstellung solcher Druckschriften ihr Scherflein beitragen. (Siehe obige Adressen etc.)
Druck der social-democratischen Genossenschafts-Buchdruckerei
22, Percy Street, To tteham [!] Court Road, W., London.
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[Anonym]: Die revolutionäre Socialdemokratie. London: Druck der socialdemocratischen Genossenschafts-Buchdruckerei »Freiheit« [1880], 8 S. Die Weiterverbreitung der Druckschrift wurde mit Erkenntnis des Kreis- als Pressgericht Wiener Neustadt vom 12. August 1880 und mit Erkenntnis des Landes- als Pressgericht Wien vom 22. Oktober 1880 in Österreich verboten.